Koketter Nihilismus
Wie man beim Festival »Kino Latino« erfahren kann, gilt Medellín in Kolumbien als »Mekka der Homosexualität«. So wird die zweitgrößte Stadt des Landes jedenfalls im essayistischen Dokumentarfilm »Anhell69« genannt, dessen Regisseur Theo Montoya in einem frühen Off-Kommentar seine Queerness zu Protokoll gibt, indem er als Masturbationsvorlage seiner Pubertät ausgerechnet Jesus anführt.
In seinem ersten Langfilm, der beim Leipziger Dokumentarfilmfestival den Hauptpreis gewonnen hat, verarbeitet Montoya Probeaufnahmen, die er 2017 für einen gesellschaftskritischen dystopischen Thriller gedreht hat, der allerdings wegen des Todes mehrerer beteiligter Freunde unvollendet blieb. Nun setzt der Filmemacher den queeren Hedonismus und koketten Nihilismus seiner einstigen Clique ebenso skizzenhaft wie gelungen mit Bürgerkrieg, Drogenmafia und der jüngsten Demonstrationsbewegung in seinem Heimatland in Bezug.
Die Faszination von »Tengo sueños eléctricos« ergibt sich hingegen nicht zuletzt aus der Unbestimmtheit des Bezugs, in dem eine ungewöhnliche Quasi-Boheme zur restlichen Gesellschaft der costaricanischen Hauptstadt San José steht. Erst allmählich ist aus Halbsätzen zu erschließen, dass die Mutter der Protagonistin Eva bis vor kurzem Tänzerin war und ein neu bezogenes Häuschen einer Erbschaft verdankt. Ebenso aktuell scheint die Trennung von Evas Vater zu sein, der nun wohnungslos ist und sich, neben anderen künstlerischen Interessen, offenbar neuerdings der Lyrik widmet.
Am Rande eines Kreises angegrauter Amateur-Poeten fühlt sich die 16-jährige Eva versucht, mit Drogen und Sex zu experimentieren. Zugleich muss sie die unkontrollierten Aggressionen des Vaters bewältigen, der sich schon in der Anfangsszene selbst verletzt. Angesichts der Zwiespältigkeit dieser Konstellation beeindruckt umso mehr, wie souverän die Regisseurin und Drehbuchautorin Valentina Maurel in ihrem Spielfilmdebüt das scheinbar beiläufig eingefangene Geschehen in einer ausbalancierten Schwebe belässt. Der Regiepreis beim Festival von Locarno war gewiss ebenso verdient wie die Darstellerpreise.
Fr 9.6.–Do 15.6., Filmhaus,
Museum für Angewandte Kunst.
Infos: filmhaus-koeln.de