Mann mit Vergangenheit: Pierfrancesco Favino

Nostalgia

Mario Martone erschafft eine Elegie auf ein Neapel ­jenseits der Touristenströme

»Neapel sehen — und sterben«, heißt es in einem geflügelten Wort, an das man während der zwei Stunden von Mario Martones »Nostalgia« immer wieder denken muss. Sein Leben lang hat der italienische Regisseur in seiner Heimatstadt Neapel verbracht, kennt ihre Straßen und Traditionen, ebenso wie ihre Schönheit und Abgründe. Nun hat er den letzten Roman des ebenfalls aus Neapel stammenden Schriftstellers Ermanno Rea verfilmt, der zwar »Nostalgia« heißt, aber zum Glück frei von jenem die Vergangenheit verklärenden Blick ist, der momentan viel zu viele Filme und Serien prägt. Dabei bewegt sich auch »Nostalgia« zwischen heute und gestern, zwischen der Gegenwart Neapels und der Vergangenheit zweier Männer, die einst Freunde waren.

Zu Beginn kehrt Felice zurück in seine Heimatstadt, der er vor vier Jahrzehnten den Rücken gekehrt hat. In Kairo hat er sich in dieser Zeit ein gutes Leben aufgebaut, von dem man nicht viel erfährt. Allein gelegentliche Videochats mit seiner Frau deuten an, dass es ihm dort sehr gut ging, er eigentlich keinen Grund hatte, zurückzukehren. Lediglich seine alte Mutter Teresa lebt noch in Neapel, bald wird sie sterben, aber nicht bevor Felice sie liebevoll gewaschen hat, ein Bild, das an eine umgekehrte Pieta-Figur erinnert. Fast ohne Worte kommen diese anfänglichen Szenen aus, in denen Felice durch die Gassen des Viertels Sanità streift, sich erinnert, vor allem sieht, wie wenig sich verändert hat.

Nach dem Tod seiner Mutter wäre es eigentlich Zeit, Neapel wieder zu verlassen, doch längst hat die Stadt ihn wieder in den Bann gezogen. Ein dunkles Geheimnis trägt Felice mit sich herum, die Erinnerung an seinen Jugendfreund Oreste, der nicht umsonst an die antike Tragödie von Aischylos denken lässt. Eine Schuld hat Felice einst auf sich geladen, die er in der Fremde, im Exil, verdrängt hatte, die nun aber ihren Tribut fordert.

Weniger über eine straff erzählte Geschichte funktioniert »Nostalgia«, denn als von Bildern und Stimmungen getragenes Porträt einer Stadt, deren wahre Identität oft hinter den gerade auch vom Kino verbreiteten Klischees verlorenzugehen droht. Man mag nicht unbedingt davon sprechen, dass Mario Martone seiner Heimatstadt ein Denkmal setzt, aber er erschafft eine Elegie auf ein Neapel jenseits der Touristenströme.

I 2023, R: Mario Martone,
D: Pierfrancesco Favino,
Francesco Di Leva, Tommaso Ragno, 117 Min. Start: 8.6.