Born to be wild: Julie Ledru (links)

Rodeo

Lola Quivoron lässt in ihrem ungezähmten Debütfilm eine junge Frau eine Motorradgang aufmischen

Wenn auf einem Filmstill zwei Menschen glücklich lächelnd hintereinander auf einem Motorrad sitzen, dann wissen Kitsch­getriggerte: Es wird mal wieder recht emotional um Freundschaft, Vertrauen und Lebens­glück gehen, so erwartbar, so normal. Auch in »Rodeo« gibt es ein solches Bild. Aber »Rodeo« ist zum Glück nicht normal. Das Spiel­film­debüt der Französin Lola Quivoron brettert geradeaus, wo andere bremsen, und nimmt Haar­nadel­kurven, wo andere nur eine einzige Richtung kennen. »Rodeo« zeigt keinen wilden Ritt: Der Film ist ein wilder Ritt.

Die Geschichte um einen weiblichen Gangster, der eine Gruppe ultra-maskuliner Motor­rad­fahrer aufmischen wird, beginnt direkt aus einer unüber­sicht­lichen Bewegung heraus: Da flucht und boxt sich Julia durch ein Treppen­haus in den Pariser Banlieues. Bruder und Nachbar versuchen, dieses Wut-Knäuel aus Locken und Schimpf­wörtern zu beruhigen, aber Julias Motorrad wurde geklaut, da gibt es kein Pardon, ein neues muss her. Sofort. Nach anfänglichem Sozial­realismus­verdacht biegt der Film nun aber zu etwas Fiesem und schließlich zu etwas Magischem ab: Julia besucht einen Mann, der sein Motorrad zum Kauf angeboten hat. Sie lächelt nett, startet dann scheinbar zur Probe den Motor und rast auf ihrer Beute einfach davon, mit ausgestrecktem Mittelfinger als Abschiedsgruß.

In diesem Moment beruhigt sich der Film (vorüber­gehend), als hätte er von jetzt an seine Mitte gefunden, sein Thema: Julia fährt. Statt kleinlich beim aufgebrachten Diebstahl-Opfer zu bleiben, schwebt Raphaël Vanden­bussches Kamera lieber im opulenten Cinema­scope-Format filmend neben der Fahrenden her, als gebe es dafür alle Zeit der Welt. Julias Gesicht strahlt, und es ist überhaupt kein liebliches, sondern ein ungezähmtes Glück, das sich nicht schert um Außen­wirkung oder Anstand, um Zukunft oder Zuständig­keit, um Gut oder Böse. Gut ist es, Gas zu geben und dabei die Haare flattern und die Gold­zähne blitzen zu lassen. So entzieht sich Julia von Anfang an dem Zugriff, gibt fast nichts von sich preis. Genau deshalb kann man den Blick nicht von ihr wenden.

Dass sie kurz darauf Benzin schnorrend zu den »B-Mores« stößt, einer Gruppe von »Rodeo«-Fahrern, die ihre Motor­räder in ­gefährlichen Stunts auf dem Hinter­rad tänzerisch beschleunigen, scheint die Geschichte vorzu­zeichnen: Sie, die Außen­seiterin und Stunt-Anfängerin, wird es am Ende besser können als alle Männer! Doch »Rodeo« biegt schon wieder ab. Julia, von den Gruppen­­mitgliedern misogyn angegangen, wird nämlich aus dem Knast heraus vom Chef persönlich engagiert, weil sie Stunts der anderen Art beherrscht: Motorrad­klau. ­Bisher vertickten die Männer ­lediglich billig erworbene, dann umgebaute Bikes, aber kein Diebesgut. Erst mit der Frau wird’s richtig kriminell.

Frauen stehen im Kosmos ­dieser Männer sonst nur als Deko-Element ihrer Shows am Rand, und es ist faszinierend zu sehen, wie unter­schiedlich sie auf Julia reagieren. Offen­sichtlich gehört sie weder zu den einen noch zu den anderen. Quivoron inszeniert das Non-Binäre Julias, ohne es der Eindeutig­keit bisexuellen Begehrens zu opfern. Julia scheint sich über Geschlecht nicht zu definieren. Nur zu Kaïs, der sie bewundert, vor allem aber zur Frau des Chefs, Ophélie, die mit ihrem Kind selbst wie eine Gefangene lebt, entwickelt sich Nähe. Es ist eine immer etwas heikle Nähe, die ohne ausgebreitete Lebens­geschichten auskommt. Was zählt, sind Taten. Bis hin zum großen Coup, den Julia plant: den Überfall auf einen LKW voller Motor­räder, bei voller Fahrt.

Der mit surrealen Traum­sequenzen sich immer mehr zum Heist-Movie, also einem Film über einen ausgeklügelten Raubzug, entwickelnde Film, erlaubt sich keine Pause. Durch Kelman Durans verfremdete Reggeaton-Samples auch auf akustischer Ebene hypnoti­sierend, degradiert »Rodeo« sein Setting nicht zur ­Kulisse und seine Laien-Darsteller*innen nicht zu Authentizitäts-Kaspern. Rückgrat dieses so wilden Movie-Moves sind gründliche Recherche und, wie die Regisseurin betont, hartes körperliches Training, sein Realismus ist also selbst wie ein Motorrad der »B-Mores«: geklaut, auseinander­genommen und zu etwas Neuem zusammen­gesetzt, das einen ­davonträgt.

F 2022, R: Lola Quivoron, D: Julie Ledru, Yanis Lafki, Antonia Buresi, 106 Min. Start: 13.7.