Ausprobiert wird nicht mehr: Kira Hummen, © David Peters

Die guten alten Tage sind vorbei

Eine Begegnung mit der außergewöhnlichen Singer/Songwriterin Kira Hummen

»The Good Old Days« von Moonlight Breakfast läuft auf dem Weg nach Düsseldorf im Autoradio. Dass ich mich gleich mit Singer-Songwriterin Kira Hummen im botanischen Garten der Heinrich-Heine-Universität über die guten alten Tage unterhalten werde, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Wirkt doch das, was man von der in Geldern aufgewachsenen Kira bisher so hören und sehen konnte und kann, nicht wie eine verstaubte Schallplatte aus anderen Zeiten, die man zufällig irgendwie irgendwo zwischen Sofaritze und Schrankwand wiederfindet. Das große Schild vor dem hübschen Ziergarten, um das man sich herumwinden muss, scheint da schon eher in diese altbackene Kerbe zu schlagen, steht doch da »Sonnenbaden sowie das Pflücken und Mitnehmen von Sämereien ist strengstens verboten«. Wer macht denn bitteschön so etwas?

So ein bisschen erinnert Kira an E.T., den Außerirdischen, der um Punkt elf Uhr vom Himmel gefallen zu sein scheint, als sie in einer knallig-blauen Plüschjacke und mit Sonnenbrille auf der Nase wie bestellt etwas schüchtern um die Ecke gehuscht kommt. Bevor jedoch die Frage nach ihrem plötzlichen Dasein vor der Gewächshauskuppel unnötigerweise zu viel Raum einnehmen kann, schlendern wir auch schon vorbei an Pflanzen wie »Viola arborescens«, »Euphorbia regis« oder »Cyathea medullaris«. Verirren könnte man sich in all diesen Namen und im botanischen Labyrinth. Aber an Kiras Seite fühlt man sich sicher. Sie kennt den Weg. Den kannte die heute 29-Jährige auch schon als Teenagerin in der niederrheinischen Provinz. Erst fehlen ihr die richtigen Worte für das, was sich damals gegen Ende der Zehnerjahre vor den Toren der Landeshauptstadt bei ihr abgespielt haben muss. Schon immer sei sie etwas spezieller in ihrem Auftreten gewesen, gibt sie zu. Ohne mit der Wimper zu zucken. Für extravagante Mode habe sie sich interessiert, fällt ihr noch ein. Vorstellen kann man sich das in etwa so: Während Kiras Mitschülerinnen und Mitschüler noch ganz angetan von ihren ersten eigenen Paar Chucks und den dazugehörigen Destroyed-Jeans waren, experimentierte sie schon mit unterschiedlichen Haar- und Lippenstift-Farben und fragte sich, welche Textil-Stoffe ihre Persönlichkeit wohl am ehesten hervorheben könnten.

Dass da eine ­kleine Stadt nahe der niederländischen Grenze einer extrovertierten Kira recht schnell nicht mehr genug sein würde: nicht überraschend. Und dass es in ihrer frühen Ausprobier-Phase eigentlich zu keinen ernsthaften Kontakten zu anderen Bands gekommen ist: überhaupt nicht überraschend.

Die Bands nämlich hätten zum größten Teil nur aus Jungs bestanden. Und die hätten zu oft ihr Rockstar-Ding durchziehen wollen. Das sei aber nicht unbedingt ihr Ding gewesen, erzählt Kira. — Warum denn nicht? — »Naja, ich hatte schon sehr konkrete Vorstellungen von meinen Songs«, denkt sie nach. Einige Sekunden verstummt sie. Bevor sie dann noch sagt: »Außerdem diktiere ich gerne.« Hannah Arendt fällt mir dazu ein, die einst sagte, es sähe nicht gut aus, wenn eine Frau Befehle erteile. Kira schweigt. Gekannt habe sie diese Aussage von Arendt nicht. Jetzt kenne sie sie und interessant sei sie zudem — »Hannah Arendt hat das mal gesagt, echt?« —, da sei die Arendt bestimmt ziemlich angeschwipst gewesen, grinst Kira. Die richtigen Worte jedenfalls findet die 2021 vom Land NRW als beste Newcomerin nominierte Singer-Songwriterin nun sehr viel präziser. Nennen wir diesen Teil ihrer Geschichte doch einfach »Kiras kleinstädtische Korsett-Ablage«. Zu der habe eben auch ganz schön viel Musik gehört, lacht sie. Und ein fettes »Nein« zur Schulleitung eines vor Ort renommierten Gymnasiums auf die Frage hin, ob sie sich denn nicht mit den exklusiven Prinzipien der Katholischen Kirche anfreunden wolle. Ihr Abi hat Kira am Ende woanders gemacht. Gut war das. Und mutig.

Sie selbst jedoch würde sich so nie beschreiben. Dafür bevorzugt sie viel zu sehr Understatement. Eins davon lautet »Mutig? Nein. Meine Familie war mein Rückhalt. Mein doppelter Boden«. Ohne ihre Eltern nämlich hätte sie früher nie ihr Korsett ablegen und sich emanzipieren können. Da ist Kira knallhart in ihrer Analyse. Jetzt öffnet sie sich. Als Zweitjüngste von insgesamt vier Kids sei sie zu Hause die meiste Zeit über in Watte gepackt worden. Zu ihren Geschwistern pflege sie nach wie vor eine innige Beziehung. Mit ihrer Schwester Anna gehe sie sogar seit ein paar Monaten regelmäßig zum Poledance, fällt ihr noch ein. So ganz plötzlich. Ein bisschen wie ein unangekündigter Windstoß fühlt sich das an. Mehr eigentlich nicht. Ein solches Gespräch lebt schließlich von der ein oder anderen Überraschung. — Okay. Cool. — Etwas Besonderes mag das sein, jedoch nicht für sie, konstatiert Kira. Schon immer habe sie gerne getanzt und körperliche Herausforderungen geliebt. Mit Kung Fu beispielsweise sei sie groß geworden. Überhaupt mache sie das, worauf sie und ihr Körper Lust hätten, sie wolle sich in ihrem Körper einfach nur gut fühlen ­dürfen und können. Der Körperbegriff, erläutert Kira, sei natürlich allumfassend auf die gesamte Person zu beziehen und nicht nur auf das Fleisch zu reduzieren. Zu keinem Zeitpunkt des Treffens war ihre Stimme klarer. »My Body Is The Only Place«, schiebt sie ruhig hinterher. Wenn sie das so sagt, wirkt es fast wie ein Stempel, mit dem sie ihre Haltung besiegelt.

Danach schauen wir beide über die ungemähte Wiese hinüber zur Kuppel. Stille. Surreal, irgendwie wie von einem anderen Stern kommt sie einem just in diesem Moment vor. Genau wie auch dieser Body-Satz. Denn der ist weit mehr als gleichzeitig nur ein Song- und Albumtitel der Newcomerin. Hört man zwischen seinen einzelnen Morphemen doch die Befreiungsschreie der Abermillionen Frauen, die tagtäglich um ihre Gleichberechtigung und um die authentische Anerkennung ihres Frauseins gekämpft haben und weiterhin kämpfen, für diesen Kampf ihr Leben gelassen haben und weiterhin lassen. Im Iran, da sind wir beide uns schnell einig, sei dieser blutige Kampf für viele von uns völlig in Ordnung. Bewundernswert sogar.


Stutzig werden könnte man. ­Ohnmächtig aber auch. Auf dieses Gefühl ­allerdings hat Kira keine Lust

Nimmt man dagegen sein eigenes näheres Umfeld genauer unter die Lupe, könnte man stutzig werden, denn: Frauen in der Bundesrepublik, im Veedel, ja, in der Familie sind alles andere als gleichberechtigt und anerkannt. Wenn beispielsweise Lyrics, wie die des deutschen Rappers Cro, »Ich bau’ mir meine Frau / Ich misch’ ’n bisschen wow mit derselben Menge schlau / […] Hier und da ’n bisschen tunen, mal was anderes versuchen / Nur Geduld, so ’ne Frau baut man nicht in paar Minuten« aus den geöffneten Fenstern junger Teenagerinnen und Teenager herausquellen, wird einem die ganze Divergenz dieser Thematik vor Ohren geführt. Wie gesagt: Stutzig werden könnte man. Ohnmächtig aber auch.

Auf das Gefühl »Ohnmacht« allerdings hat Kira keine Lust. Man hat sofort den Eindruck, das sei noch nie eine Option in ihrem Leben gewesen. Deswegen schießt sie nicht gegen Cro und Co., deswegen wird sie nicht ungehalten oder gar wütend. Verstehen würde man es. Kira bleibt ganz schön gelassen, belächelt »so ’ne Frau«, die man eben nicht mal so in ein paar Minuten baue.

Schließlich redet sie über Ziele. Ihre Ziele. Denn nur die seien am Ende wirklich effizient gegen derlei Tuning-Geschwafel. Und Ziele beziehungsweise Zielgruppen hat die Wahl-Bilkerin, möchte sie mit ihrer Musik doch vor allem Frauen und Männer ansprechen, die sich bisher mit ihren eigenen Geschlechterrollen nicht abfinden konnten, aber noch nicht getraut haben, sich gegen tiefgreifend konventionelle Bilder und Zuschreibungen aufzulehnen. An deutschsprachige Texte jedoch denke sie zurzeit nicht, ihre Botschaften sprechen Englisch. So könne sie mehr Menschen erreichen. Wie zum Beispiel diese ältere Dame vor ein paar Monaten auf einem ihrer Konzerte. Die habe sie nach dem Gig einfach angequatscht und ihr auf den Kopf zugesagt, wie sehr sie sich durch Kiras Texte gehört und verstanden gefühlt habe. Schon seit ihrer Jugend, erzählte die Konzertbesucherin, habe sie, wie auch viele andere Frauen und Männer ihrer Generation, die Gleichberechtigungs-Frage wie einen nassen Sandsack auf ihren Schultern getragen. Später, so Kira, habe sie mit der Frau dann noch einige Stunden am Tresen der Bar gesessen und Kakao getrunken. »Solche Momente werde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen.«

Kira schaut zur Kuppel hinüber. Auf der Fahrt zurück nach Köln höre ich »My Body Is The Only Place« von Kira Hummen. »The Good Old Days« sind vorbei.