Die Geschichte neu erzählen
Mit der Frage nach den Besitzverhältnissen seiner Sammlung setzt sich das Rautenstrauch-Joest-Museum unentwegt auseinander. Die erst kürzlich gefeierte Rückgabe von 92 Benin-Bronzen aus Köln nach Nigeria und die aktuell hitzig geführte Diskussion über deren zukünftigen Verbleib zeigt: Es ist kompliziert. Aber auch für zeitgenössische Künstler*innen aus Afrika ist die ständige Konfrontation mit der Kolonialgeschichte eine Bürde, wie der Titel von Lebohang Kganyes Projekt im RJM verheißt. Im Rahmen des »Artist Meets Archive«-Programms wurde die südafrikanische Künstlerin eingeladen, aus und in den Archiven des Museums ein neues Werk zu entwickeln.
Kganye stieß auf die Sammlung und Aufzeichnungen des Geografen Franz Thorbecke und seiner Frau Marie Pauline Thorbecke, die von 1911 bis 1913 im Auftrag der Deutschen Kolonialgesellschaft in Kamerun waren, um das Land zu vermessen. In ihren Zeichnungen der unberührten, weiten Landschaften Kameruns präsentierte Marie Pauline Thorbecke den Kolonialisten ein Land, nachdem sie nur zu greifen brauchten. Kganye machte sich, inspiriert von den verheißungsvollen Bildern, auf den Weg nach Kamerun, um der Reise der Thorbeckes nachzugehen. Sie selbst versteht sich mehr als »Storytellerin« denn als Fotografin, und so stehen Geschichten — die aus dem Tagebuch von Marie Pauline Thorbecke und jene, die ihr von den Menschen vor Ort erzählt wurden — im Zentrum ihrer beiden Werke. Im vorderen Teil der Ausstellung hat sie kleine Bühnenbild-ähnliche Schaukästen geschaffen, in denen sie ausgehend von Fotografien der Thorbeckes die Geschichten der Könige von Bamun nacherzählt, wobei sie selbst in die Rollen der Machthaber schlüpft und die Mythologie um eine weibliche Perspektive erweitert. Auch in der Videoarbeit, die sich als breites Panorama im zweiten Teil der Ausstellung entfaltet, begibt Kganye sich selbst in die Geschichte und wandert von Ort zu Ort, um die Spuren der Thorbeckes mit neuen Markierungen zu überschreiben.
An jedem Ort hinterlässt sie etwas zurück, Erde, Kokosnüsse oder Pflanzen — Gegenstände, die an die Objekte aus der Sammlung der Thorbeckes im RJM erinnern. Am Ende der Ausstellung ist die Geschichte nicht auserzählt, im Gegenteil: Sie gibt uns Fragen mit nach Hause, Denkanstöße und Widersprüche. Das ist doch das Beste, was man von einer Ausstellung erwarten kann.
»Gebt alles zurück — bis auf die Bürde«, Rautenstrauch-Joest-Museum, bis 5.10., Di–So 10–18, Do 10–20 Uhr, umfangreiches Rahmenprogramm zu »Female Perspectives« und »Entangled History: Deutschland & Kamerun«