Familiengeschichtenerzähler: Deniz Utlu, Foto: Heike Steinweg

Vielsagende Sprachlosigkeit

Deniz Utlu erzählt in seinem Roman »Vaters Meer« vom Reichtum der Migration und einer Beziehung, der die Worte ausgegangen sind. Jetzt liest er in Köln

Aus der Sprachlosigkeit einen Roman zu machen, ist ein schwieriges Unterfangen. Welche Worte gibt es für die Momente, in denen die Worte gefehlt haben? In Deniz Utlus neuem Roman »Vaters Meer« ist es sein Teenage-Alter-Ego Yunus, der sich diesen Fragen stellen muss. Sein Vater Zeki verliert nach einem Schlaganfall die Fähigkeit zu sprechen. Nur die Augen kann er noch bewegen. »Mein Vater sagte zu meiner Mutter, ich liebe dich sehr. Er sagte das mit seinen Augen durch ihre Hand, nicht mit seiner Zunge. Er sagte es mit seiner Augenzunge.«

Das türkische Wort »dil« kann sowohl »Sprache« als auch »Zunge« bedeuten. Zekis Muttersprache ist Arabisch. Er kommt aus den kurdischen Gebieten an der syrischen Grenze. Seine Geschichte zwischen Kurdistan, Istanbul und Hannover ist es, die Deniz Utlu in »Vaters Meer« erzählt.

Beim Bachmann-Preis in Klagenfurt las Utlu einen Auszug seines dritten Romans, doch die Mehrheit der Jury war nicht überzeugt: Zu didaktisch sei er, zu konventionell, zu wenig spannungsreich, zu wenig offen. Nur eine Jurorin ging auf die Erwähnung von Yaşar Kamals Roman »Memed mein Falke« ein. In diesem wird ein Bauernjunge zum Helden des Widerstands gegen einen Großgrundbesitzer. Der Roman gehört zum Kanon der Türkei, in den 60er Jahren war er eine Inspriration für die dortigen Oppositions­bewegungen. Durch seine Erwähnung gibt Utlu einen Einblick in die Vorstellungswelt seines Teenage-Ich-Erzählers, der sich als »Anarcho-Syndikalist« bezeichnet und die Nächte mit der Lektüre von »Das Kapital« verbringt.

Zugleich wirft die Erwähnung des Buchs ein Licht auf die Beziehung von Vater und Sohn. Denn für Vater Zeki bewahrte das Militär lange die Prinzipien der türkischen Republik. Das erklärt er wortreich gegenüber Freunden bei einem Besuch in Istanbul im Jahr 1980. Dann schaltet er das Radio ein. Es ist die Nacht des Militärputschs, in dessen Folge das Militär besonders hart gegen kurdische und linke Oppositionelle vorging. »Willkommen in der Diktatur«, sagt er zu seinen Freunden, als er sie weckt. Aber wer spricht in dieser Szene? Ist es Zeki? Oder ist es Yunus’ Vorstellung davon, was sein Vater gefühlt und gedacht haben könnte?

In Szenen wie diesen löst »Vaters Meer« auf literarischer Ebene ein, was Utlu in einem Essay formuliert hat: Die Migration stellt ein Wissen bereit, das vergessen, verstreut und fragmentiert ist. So erzählt er Zekis Geschichte nicht linear von Kindheit und Geburt an, sondern als Zusammenstellung von Episoden: »Vater war eine Erzählung geworden, er war keine Person mehr.«

In dieser Erzählung wird Vater Zeki selbst zum Sinnbild des Umgangs mit dem Archiv der Migration. Er kann aus dem Reichtum mehrerer Sprachen und Kulturen schöpfen, aber wird in diesem Reichtum immer durch seine Umgebung eingeschränkt. Welche Gefühlsäußerungen kann er auch in Deutschland zulassen und welche würden auf Unverständnis stoßen? Wie es sich für ein Mitglied seiner Generation gehört, verhandelt Zeki diese Frage über Musik, die er bei seinen Dates spielt: »Manchmal mutete er ihnen Zeki Müren oder Bülent Ersoy zu. Behiye Aksoy hörte er allein.«  

Utlus Hauptfigur kann aus dem Reichtum mehrerer Sprachen und Kulturen schöpfen, aber wird in diesem Reichtum immer durch ihre Umgebung eingeschränkt

»Vaters Meer« ist ein Roman über Migration, dessen Hauptfigur nicht in ihren Klischees aufgeht. Eine der rührendsten Szenen besteht in einer Begegnung Zekis mit einer Gruppe Teenager. Gemeinsam verbringen sie die Nacht auf einem Sportplatz, wo sie über ihre Sorgen reden: ein Mann in seinen Dreißigern, der nach dem Scheitern seiner Ehe ebenso nach einem Platz im Leben sucht wie es die Teenager tun.

Aber ist »Vaters Meer« wirklich ein »konventioneller« Text, wie die Bachmann-Jury bekrittelte? Ja und nein. Denn so viele Konventionen Utlu bedient, so vielen entzieht er sich auch. In seiner Sprache finden sich keine Spuren von Straßenslang oder ausschmückender Metaphorik, die die Leseerwartung »migrantischer« Literatur bedienen würden. Stattdessen dominiert ein nüchterner, reflektierter Erzählstil, in den zwar immer wieder ein paar Worte Türkisch einfließen, der jedoch vor allem typisch für Utlus (Jahrgang 1983) Generation deutschsprachiger Schriftsteller:innen ist — bis hin zu ausufernden Detailbeschreibungen. Oder wie Yunus im Roman sagt: »die Sprache, mit der wir durchs Leben schreiten«.

Short Story Night

Mi 16.8., Rheinauhafen, 19 Uhr
mit Deniz Utlu, Kathrin Weßling, Gunther Geltinger, Philip Böhm, Natalie Harapat
shortstorynight.de

Roman

Deniz Utlu: »Vaters Meer«
Suhrkamp, 384 Seiten, 25 Euro