Wie hältst du’s mit dem Kleben?
»Letzte Generation vor den Kipppunkten«, steht auf dem orangen Banner, das die Aktivist*innen halten. Auf dem Theodor-Heuss-Ring, auf dem sie gehen, rollt der Verkehr. Hinter den Streifenwagen am Ende der langen Karawane von Demonstrierenden stauen sich die Autos Richtung Rhein, aber niemand steht. Niemand klebt auf dem Asphalt. »Fahrrad!«, ruft jemand von hinten aus dem Pulk, »Radstreifen bitte freihalten!«.
Für einen Mittwochnachmittag Ende Mai hat die Letzte Generation in Köln zum Protestmarsch aufgerufen. Auch mich hat man benachrichtigt, um kurz vor vier haben wir uns versammelt, harren schwitzend in der hitzereflektierenden Betoneinfassung des Ebertplatzes aus. Dichtes Gedränge, mit Edding beschriftete Pappen, Kamerateams, Sonnenhüte, Wasserflaschen. Als Caroline Schmidt in neon-oranger Warnweste auf die flache Steinmauer tritt, mit einem Megaphon, da strömt die Menge auf sie zu wie bei einem Platzsturm im Stadion. Mit warmer Stimme, freundlichen Gesichtszügen, die dunkelgrauen Haare zurückgebunden, begrüßt sie alle und erzählt von sich, von der 41 Jahre alten Kellnerin, die sie, die Aktivistin, seit Ende März nicht mehr ist. Dann kommt sie zum Ablauf.
»Wir wollen keine unnötige Eskalation! Wir setzen uns nicht hin und wir kleben uns vor allem nicht fest heute!«
Jubel, Beifall. Kurz darauf ziehen die Protestierenden Richtung Rhein, es müssen mehrere hundert sein. An der Ecke Turiner Straße öffnen sich im Stau stadtauswärts einige Autotüren, blöken kurz synchron zwei Hupen, aber niemand pöbelt. Wie beim Neustart eines abgestürzten Betriebssystems rattern die Wagen Minuten später wieder über die Kreuzung. Viele, mit denen ich im Demonstrationszug spreche, sind empört von den Razzien gegen die Letzte Generation. Eine Woche zuvor sind bundesweit Wohnungen von Aktivist*innen durchsucht worden, wegen des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Ein Rollstuhlfahrer, mehrere Kinderwagen, angeleinte Hunde sind auf dem Asphalt unterwegs. Fahnen der IG Metall, von Extinction Rebellion, den Teachers for Future wehen über den Köpfen der Protestierenden.
In Jacken, Mäntel und Schals verpackt treten die Interessierten von der Venloer Straße hinein. An einem Dienstag-Abend im März hält die Letzte Generation im Kulturraum 405 eine ihrer Krisensitzungen ab. Auf die Bühne tritt in einem Norweger-Pulli und mit dunklem Vollbart Simon Werle, 42, neben ihm Caroline Schmidt. »Wir wollen mehr werden«, formuliert Werle zwischen ausrangierten Möbeln und Sofas mit abgewetzten Polstern die Überschrift des Abends ins Mikrofon, »und wir nennen das hier ganz bewusst Krisensitzung«.
Der Tonfall wird harsch, von einer drohenden massiven Vernichtung von Menschenleben ist die Rede, vom Massengrab Mittelmeer, jetzt oder nie, kollektives Handeln oder kollektiver Suizid, ein Zitat von UN-Generalsekretär António Guterres. Es wandert ein Satz kopierter Kontaktbögen durch die Reihen, auf dem man ankreuzen kann: »Zu einmaliger Festnahme bereit«, »Ich bin bereit, ins Gefängnis zu gehen« und: »Vielleicht, ich brauche mehr Infos«.
»Die Entwicklung übermenscht mich«, sagt Caroline Schmidt. »Aber wenn man die Geschichte zivilen Ungehorsams sieht«, sagt Werle neben ihr, »den Kampf für die Bürgerrechte von Schwarzen in den USA beispielsweise, die Freedom Riders 1961, dann kann mit einer kritischen Masse Veränderung funktionieren.«
Im Regionalexpress nach Bonn lese ich auf dem Weg zum Aktionstraining an einem Samstag-Morgen im Wiki auf der Homepage der Letzten Generation: »Wir wollen bürgerlich wirken!« Am Ostersonntag um 10 Uhr, eine Woche zuvor, hat die Kölner Ortsgruppe für ihr Aktionstraining zu wenige Anmeldungen erhalten, musste auch mir absagen.
In Bonn-Tannenbusch folgt auf die Erdungsmeditation der Buddy-Talk. Das paarweise Kennenlernen verlängern Laura Wegener und ich im hinteren Teil des Seminarraums kurzerhand. Wir duzen uns. Wegener, 28, trägt kurzgeschorenes Haar und studiert nach ihrer Ausbildung zur medizinisch-technischen Laboratoriumsassistentin Applied Biology an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Für die Bonner Ortsgruppe arbeitet sie im Hintergrund, koordiniert Anfragen und Mails, weil ihr wichtig ist, dass Grüne, Letzte Generation, Extinction Rebellion und all die anderen Klimagruppen an einem Strang ziehen. Auf der Straße geklebt habe sie noch nicht, die Blockaden bereiteten ihr Bauchschmerzen, sie beschreibt sich als eine harmonieliebende Person. Was rechtfertige einen solch krassen Eingriff in das private Leben von Menschen? Trotzdem sei es das Effektivste, was sie für Aufmerksamkeit tun könnten, sagt sie nach einer kurzen Pause. Sätze wie Grautöne.
»Ist es der letzte Strohhalm?« Sie muss nachdenken. »Eigentlich eher nicht. Weil ich Hoffnung habe. Weil ich hier das Gefühl bekomme, ich tue etwas.« Das Aktionstraining leitet Christopher Sappok in Hemd, Stoffweste und hellen Jeans, einen Leitfaden auf den Knien, aus dem er im Stuhlkreis manchmal vorliest wie aus einer Bedienungsanleitung. Er ist Sprachwissenschaftler an der Universität zu Köln, 53 Jahre alt, promoviert, und wurde Aktivist nach einem Vortrag der Letzten Generation in der Kirche, in der seine 13-jährige Tochter demnächst konfirmiert wird. In Köln, Berlin und Bonn saß er bereits auf der Straße, »und zweimal hab ich die RWE-Fassade in Essen verschönert. Mir wird immer schwindeliger, wenn ich mir klar mache, wie sehr wir unsere Kinder bestehlen«.
Am Vormittag geht es um Grundsätzliches, weitgehend im Frontalunterricht, aber nicht professoral. »Wir halten den Verkehr nicht auf«, sagt Sappok vor den bodentiefen Erdgeschoss-Scheiben, »weil wir die Leute da auf der Straße schuldiger am Klimawandel finden als uns selbst«.
Es geht um die Polizei, um das Schubbern mit Holzstäbchen und Olivenöl, nach dem der Handteller schon mal blutig sein kann. Es geht um die Bienen, die sich auf die Fahrbahn setzen und erst auf das Kommando der Bienenkönigin hin, wenn die Polizei eintrifft, festkleben, um die Hummeln, die als Passant*innen getarnt die Diskussion auf der Kreuzung beeinflussen sollen. Es geht darum, bespuckt oder mit Cola übergossen zu werden. In der Mittagspause spazieren wir im milden Sonnenlicht neben Krokussen, die auf den Rasenstreifen am Straßenrand die letzten Spätwinterreste fortgeblüht haben. An einer Zigarette ziehend erzählt Christopher Sappok, dass er für eine Straßenblockade Urlaub nehme, klar. »Meistens auch noch einen zweiten Tag zum Abschalten.« Das Handy lege er dann zur Seite. Könne ich gerne alles aufschreiben, mit Klarname, darum gehe es ja, mit Gesicht und Name einzustehen für den Protest.
Dann stehen die Rollenspiele an. Ich habe entschieden, mitzumachen, doch noch einmal zu versuchen, unmittelbar mit der Aktivistin mitzufühlen, die von der Polizei vom Kühlergrill eines Benz weggetragen wird. In einem Trio wechseln wir uns in den Rollen ab. Als nasser Sack, die Arme und Beine ohne Körperspannung von sich gestreckt, ist man verletzlich, angewiesen auf Behutsamkeit, wenn man nicht über den Asphalt schrammen will, während man an Hand- und Fußgelenken getragen wird, Behutsamkeit, mit der man vielleicht nicht immer rechnen kann, denke ich. Drinnen teilt Sappok Aktivist*innen und Autofahrer*innen ein, bittet um die frischgewaschenen Socken, die man mitbringen sollte. »Und wenn ihr in der Rolle des Autofahrers seid, Leute, gebt ruhig Gas.«
Die Ansprache eines Handballtrainers, der in eine Taktikmappe blickt. »Das betonen sie hier im Skript. Und das haben sie jetzt nicht gegendert.« Nachdem er das Signal gegeben hat, wird gepöbelt und geschubst, diesmal ohne mich. Der saure Geruch von Schweiß. Die roten Gesichter. Immer wieder Nachfragen der Autofahrer*innen, wann denn die Minute, die jede Phase dauert, vorüber sei. Laura Wegeners Socke touchiert die Schulter eines Teilnehmers höchstens, als sie, die Autofahrerin, zuschlagen soll.
Nach dem Abschlussgespräch diktiert Christopher Sappok dann noch zum Mitschreiben verschiedene Kontakte, »und den besten Klebstoff gibt es übrigens bei Tedi, kostet 20 Cent. Hier, möchte jemand? Verschenke ich.« Kurz vor Mitternacht schreibt Wegener in einer Mail, sie habe meine Anwesenheit als angenehm empfunden. Ihr sei jetzt aber klar geworden, wie spontan sie zugesagt habe, dass ich alles verwenden dürfe, was sie erzählt habe, auch ihre Skepsis. Nun habe sie Sorge, der Bewegung Schaden zuzufügen. Für Montag verabreden wir uns, um zu telefonieren. Dass Gespräche der Letzten Generation mit Journalisten abgehört worden sind, wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Als sei er ausgeschnitten aus einem Hintergrund, sitzt Robin Napiany vor einer weißen Wand. Am Zoom-Bildschirm kräuseln sich schwarze Locken über seiner Stirn. Ende April blockiert eine dreistellige Zahl von Aktivist*innen aus ganz Deutschland die Straßen in Berlin. »Wir sind hier zuversichtlich, dass wir damit unignorierbar werden«, sagt Napiany und lächelt. Fast alle Widerstandsgruppen sind gemeinsam in Berlin, eine große Mannschaft. »Am ermutigendsten sind eigentlich die Treffen vor und nach dem Protest. Mittwochs brunchen wir hier jetzt immer in einer Kirche, und jeden Abend gibt es die Küfa, die Küche für alle. Wo ein Team für alle kocht, vegan und mit Rücksicht auf Allergien.«
Auf Bundesebene ist die Letzte Generation in einer Kerngruppe, zuständig für das strategische Gerüst, und Arbeitsgruppen organisiert, Management und Kommunikation, IT, Finanzen, Presse, Sicherheit. Die Struktur eines Unternehmens. Darüber hinaus gibt es regionale Strategieteams. »Bei uns in der Kölner Gruppe«, erklärt Robin Napiany, »gibt es zwei bis drei Koordinator*innen. Die Besetzungen sind nicht fest, wechseln ständig. Aber wir haben nicht wie auf der Bundesebene AGs.«
Formale basisdemokratische Entscheidungsverfahren gibt es nicht, weil es manchmal schnell gehen muss, aber niemand entscheidet alleine. Sein Aktivismus kostet Zeit, Freund*innen trifft Napiany im Moment nur selten. Zum Wandelbündnis, das einigen Aktivist*innen der Letzten Generation für Bildungsarbeit ein kleines Einkommen bezahlt, will er nichts sagen. Letzten Sommer hat er sein Abitur gemacht, und eigentlich wollte er seit zwei Wochen im Hörsaal sitzen und studieren.
»Und warum die Letzte Generation? Und nicht die Grünen?« »Ich bin kein Mensch für Politik. Weil Politik immer auch Kompromisse bedeutet. Und bei Fridays for Future war ich irgendwann sauer, dass die einfach ignoriert wurden. Wir brauchen halt effektiven Klimaschutz jetzt, und nicht weiterhin Larifari. Deshalb wollen wir unignorierbar werden.« Er lupft einen Arm in den Bildschirm, ein schmales Stoffarmband in Regenbogenfarben am Handgelenk, um sich an der Schläfe zu kratzen. Unignorierbar werden, ein Mantra.
Anton überlegt noch. Schon vor der verabredeten Zeit sitzt er mit einem Milchkaffee und einer zerfledderten Ausgabe von Mark-Uwe Klings »QualityLand« im Café Goldmund in Ehrenfeld. Ende März war Anton, mit seinem vollen Namen möchte er lieber nicht zitiert werden, auf der Krisensitzung im Kulturraum 405. Theoretisch findet er Gefängnis vertretbar im Angesicht der Krise, in der Menschen vor dem Klimawandel fliehen müssen. Aber er weiß es immer noch nicht.
Anton, 20, gibt Nachhilfe und sucht einen neuen Job, um eine Fahrradreise zu finanzieren, zu Freunden in Deutschland, aber auch nach Osteuropa, Saudi-Arabien, in den Iran, dort weilt gerade ein Freund. Viele aus seinem Ehrenfelder Freundeskreis, Akademiker*innen-Kinder, die studieren, sind nach dem Abitur durch Thailand oder nach Neuseeland gereist. Aber mit dem Fahrrad, glaubt Anton, lernt man andere Menschen kennen, es hat nicht mal etwas mit dem Klima zu tun. Am Richard-Riemerschmid-Berufskolleg hat er vor Kurzem hingeschmissen, nach seiner Ausbildung wollte er eigentlich sein Abitur nachholen. Antons Mutter arbeitet bei der Verbraucherzentrale, sein Vater ist Lokführer, Anton wohnt bei ihnen. Seine Eltern spenden ab und zu, sind aber nicht politisch organisiert. Zuhause gibt es saisonales Obst und kein Auto, Sachen werden repariert, als Urlaub fährt man zum Camping.
Auf Kontaktbögen kann man ankreuzen: »Zu einmaliger Festnahme bereit«, »Ich bin bereit, ins Gefängnis zu gehen« und »Vielleicht, ich brauche mehr Infos«
»Aber auf persönlichen Verzicht sollte man nicht zu viel Zeit verschwenden. Es geht um andere Politik, nicht um andere Individuen. Fleisch für zwei Euro das Kilo, das wird gekauft werden, solange das möglich ist.« Halbsätze, unterbrochen von einem Innehalten wie Strom von einer herausgesprungenen Sicherung. Anton formuliert bedächtig, spielt an einem seiner breiten silbernen Ringe herum, während er nach einer Frage oder vor dem nächsten Satz überlegt. »Mich stören Leute, die sagen, das und das ist so.
Nee, das ist nicht so. Das kann man ändern. Und das könnte Menschen in einer Demokratie gut tun, zu sehen, dass man Dinge verändern kann.« Nach den Razzien im Mai kommt es auch in Köln nach längerer Pause wieder zu einer Straßenblockade. Am 6. Juni sitzen um kurz nach acht im Berufsverkehr sechs Aktivist*innen auf der Deutz-Mülheimer Straße. Aber vor allem kündigt die Letzte Generation ab Ende Mai regelmäßig und in vielen Städten Protestmärsche an wie eine neue Großwetterlage.
Nach einer halben Stunde schwenkt der erste Protestmarsch nach den Razzien unter der gleißenden Nachmittagssonne auf das Konrad-Adenauer-Ufer. »Wenn man die Straßen blockiert, wo die Kollegen zur Arbeit wollen, das haben wir kritisiert«, sagt Reiner Dworschak, Stahlarbeiter in Rente und als Vertreter der MLPD hier, unter einer grauen Schiebermütze. »Aber diese Kriminalisierung jetzt geht gar nicht.«
Laura Wegener hat mittlerweile an drei Straßenblockaden teilgenommen und 25 Stunden in Polizeigewahrsam verbracht, schreibt sie einige Tage nach dem Protestmarsch in einer Mail. Anton und Dr. Christopher Sappok sind nicht am Ebertplatz erschienen. Mit dem Säugling einer befreundeten Aktivistin auf dem Arm steht Robin Napiany um viertel vor sechs an der Ampel an der Kreuzung Goldgasse, wo die Demonstrierenden noch einmal für eine Zwischenkundgebung anhalten. Er überragt mich um einen Kopf, Schweiß glänzt unter seinen schwarzen Locken auf der Stirn, aber es ist fast geschafft, und alle Interviews mit Spiegel TV, Stern TV und RTL im Kasten.
Vor dem lichtglitzernden Rhein der lange Demonstrationszug, die Flaggen und bemalten Pappschilder. So viele Menschen mit der Letzten Generation auf der Straße, ein Wendepunkt? »Ehrlich gesagt, mir ist total schlecht gerade«, sagt Caroline Schmidt, hält sich gegen die Sonne die flache Hand vor die Stirn, »es sind so viele Leute geworden, so viel Veranwortung. Hätte ich nicht mit gerechnet. Und Wendepunkt? Ich hoffe es. Wird sich zeigen.«