Berühmt und immer rätselhaft
Wenn man eine Millionen sprachbegabte Affen auf einer Million Schreibmaschinen tippen ließe, dann kämen diese dennoch nicht auf die Menge an Wörtern und Sätzen, die über Jeff Mills geschrieben wurden. Es gibt, und das mag gerade die jüngere Generation an Fans elektronischer Klänge erstaunen, keinen Techno-Künstler, der so einflussreich gewesen ist wie Jeff Mills.
Wer heute einen Club betritt und die Person hinter dem DJ-Pult als Schamanen, vielleicht Sektenführer oder einfach als Star wahrnimmt, der darf sich für diesen Kult beim 1963 in Detroit geborenen DJ und Produzenten bedanken. Hat dieser doch vor etwa 35 Jahren den bis dahin eher im Anonymen angesiedelten Disc-Jockey ins Scheinwerferlicht geholt, zu einer öffentlichen Figur gemacht und damit auch der Prominenz feilgeboten.
In den Anfangstagen seiner Musikerlaufbahn war Mills derweil kein Techno-DJ, den Begriff »Techno« gab es damals noch gar nicht. Anfang und Mitte der 1980er war Mills Anhänger des jungen HipHops, erlernte das DJ-Handwerk von der Pike auf und nannte sich fortan The Wizard. Seine Sendung beim lokalen Sender WDRQ hinterließ auch beim heranwachsenden Marshall Mathers einen bleibenden Eindruck, sollte er unter seinem Pseudonym Eminem doch Jahre später den »Wizard« in einem Vers verewigen. Für Mills war HipHop aber nur eine Durchgangsstation — er wollte mehr Fortschritt, mehr Zukunft.
Futuristischen Welten und Weiten hängt Mills schon seit seiner Kindheit an: In der dritten Klasse hatte ein Vertretungslehrer, so die Legende, eine Filmrolle des Fritz Lang Films »Metropolis« gezeigt, kurz vorher waren zwei US-Amerikaner erstmalig über die Mondoberfläche gestolpert — die Zukunft und das All sollten zu den beiden wichtigsten Vektoren für sein Leben werden.
Die aufkeimende Techno-Musik war dafür ein prädestiniertes Vehikel, versprach sie als Maschinen-Funk doch die Loslösung von menschlichen Makeln. Mills wechselte das Metier, legte aber bis 1988 vornehmlich in Radio-Sendungen auf — bis er mit dem Parliament-Bassisten Mike Banks, dem Produzenten Robert Hood und weiteren Gefährten das Label und Kollektiv Underground Resistance gründete. Detroit Techno wurde das El Dorado der elektronischen Musik: Nirgends sprudelte neue, avantgardistische, fesselnde und faszinierende Sounds so kontinuierlich wie in der zerbröselnden Motor City.
Mal war für Mills der DJ die wichtigste Kunst-form des modernen Menschen, dann sah er im Produzenten elektronischer Musik einen Tiergeist-ähnlichen Charakter
Mills wirkte schon damals wie auf einem eigenen Planeten unterwegs: Während andere noch bis heute T-Shirts, Hoodies und andere Street-Wear tragen, schlüpfte er, sobald es ging, in Anzüge, die an jene Zhaosheng-Anzüge erinnern, wie sie einst Mao Zedong popularisierte. In Kombination mit seinem hageren Erscheinungsbild verlieh ihm das eine Kung-Fu-Meister-Aura. Alle anderen waren eifrige Jünger des Sounds, Mills transzendierte indes in andere Sphären — als Prophet des DJ-tums. Das führte alsbald zu Streitigkeiten, die Mills erst nach New York treiben sollte und später nach Chicago führen — ausgerechnet Chicago, der große Gegenspieler Detroits am Lake Michigan. Gleichzeitig gründete er die Labels Axis und Purpose Maker, später noch weitere; sein Hit »The Bells« gehört bis heute zur heiligen Liturgie der Techno-Messe.
Doch seine philosophischen Ausflüge führten schon bald in schöngeistige Sackgassen: Trotz einer erstaunlich niedrigen Quote an Irrlichterei fabulierte er sich immer häufiger in die Überhöhung seines Fachs. Mal war der DJ die wichtigste Kunst-Form des modernen Menschen, dann sah er im Produzenten elektronischer Musik einen Tiergeist-ähnlichen Charakter. Bald wollte er, wie er Alexander Kluge — noch so ein notorischer Fabuleur — in einem Interview erklärte, sein Studio, das eh einem Raumschiff ähnele, in acht Glieder mit einem zentralen »Gehirn« in der Mitte umbauen. Er konnte es auch handfester: Als er nämlich mit »The Exhibitionist« eine Mix-DVD realisierte, die ihn gleich aus drei (frei wählbaren!) Blickwinkeln beim DJ-Set-Mixen zeigte. Da schrieben wir erst das Jahr 2004 und noch niemand, außer Mills, glaubte an die visuelle Vermarktung von DJ-Sets — Boiler Room und HÖR-Radio lachen sich heute die Hucke voll.
Mills wollte den DJ zu einer fast schon messianischen Figur transzendieren, was ihn in den Clubs nach und nach in der Bedeutungslosigkeit verschwinden ließ, ihn aber andererseits auf die Bühnen der Hochkultur hievte. Sowohl mit seinem Neuvertonungen von Stummfilmen, allen voran »Metropolis« natürlich, als auch mit seinen philharmonischen Ausflügen kreiierte er die (konter-)revolutionäre Version des bis dahin latent aufsässigen und aktivistischen Discjockeys.
Seit den Nullerjahren spielt er häufiger mit Orchestern wie dem London Contemporary oder dem Montpellier Philharmonic Orchestra zusammen. Während hier einerseits Menschen mit elektronischer Musik in Kontakt kommen, die (nicht nur) qua Alter keinen Club dieser Welt mehr besuchen werden, meinen andere, etwa die englische Musikjournalistin Chal Ravens, dass die Kombination von Techno und Philharmonie schlicht unpassend sei. Ein Vorwurf, den man immer wieder hört: Hier die genuine Tanzmusik Techno, die spontan und körperlich verstanden und von den Tänzer*innen zum Leben gebracht werden will; dort die durchgeplante, in Mannschaftstärke vorgetragene Philharmonik, die in den Konzerthäusern möglichst konzentriert, leise und mit beiden Pobacken auf dem Sitzplan genossen werden darf.
Wie zum Kompromiss bereit, präsentierte Jeff Mills daraufhin neue Varianten der selben Idee: 2018 tourte er mit der Afro-Beat-Legende Tony Allen, seines Zeichens Drummer bei Fela Kuti, durch die Konzerthäsuer. Maschinen-Funk traf auf das afrikanische Echo des (afro-)amerikanischen Funks — Match made in Heaven? Die Kritiken reagierten wohlwollend, wenngleich vorsichtig. Ganz traute man dem Braten nicht; den Anschein unnötiger Steifheit und Korsetthaftigkeit konnte Mills nie ganz entkräften. Dieses Jahr ein neues Projekt, ein neuer Anlauf: Mit »TOMORROW COMES THE HARVEST« und seinen Mitstreitern Jean-Phi Dary & Prabhu Edouard erkundet Mills nun die »höheren Sphären des Bewusstseins«.
Er beruft sich dabei sowohl auf die metaphysische Qualität des Jazz wie die spirituellen Facetten der indischen Tabla-Klänge. Ob das nun ein wahrhaft bewusstseinserweiterndes Vergnügen oder schlicht Retrofuturismus ist, das schaut und hört man sich am besten selbst an.
Jeff Mills mit Jean-Philippe Dary und Prabhu Edouard Edouard: »Tomorrow comes the harvest«, Sa 16.9., Philharmonie Köln, 20 Uhr