Bis die Nähte fast auseinanderplatzen
Roter Paillettenstoff und schwarzer Latex, Tüll und Samt, glänzende Seide, verblichene Bettlaken und Gardinen — wo sich bei anderen Künstler*innen die Farbtuben stapeln, da türmen sich in Anna Virnichs Atelier Stoffe aller Art, ein gesammelter und immer weiter wachsender Fundus, aus dem sie seit Jahren schöpft. Aktuell arbeitet sie an neuen Arbeiten für ihre Einzelausstellung in der Kölner Galerie Drei, die am 1. September eröffnen wird.
Von weitem oder auf Reproduktionen wirken ihre Bilder, Textilcollagen oder Wandobjekte — so ganz streng wollen sich diese sich nicht in eine Kategorie zwängen lassen — wie abstrakte Malerei, zusammengesetzt aus unterschiedlichen Farbflächen, die aneinanderstoßen, sich gegenseitig überdecken und dennoch durchscheinend sind. Bei näherer Betrachtung zeigen sie ihre wahre Gestalt, ihre Falten, Raffungen und Nahtstellen, die wie Narben auf der Haut wirken. Der Gedanke der Membran, die durchlässig ist und zwei Elemente verbindet, die sich gegenseitig bedingen, ist ihr sehr wichtig.
»Meine Stoffarbeiten sind oft anziehend und abstoßend zugleich«, erklärt Anna Virnich. Viele Menschen sind von der Materialität und dem Farbklang fasziniert, doch die Stoffe, bei denen man nicht so genau weiß, ob sie ein Vorleben hatten, welche Menschenkörper sie umhüllt, welche Flüssigkeiten und Gerüche sie in sich gespeichert haben, können eben auch eine gegenteilige Reaktion provozieren. Virnich arbeitet gerne mit dieser schleichenden Entdeckung bei den Betrachter*innen, die sie als »beiläufige Manipulation« beschreibt. Überhaupt stecken diese meist gegenstandslosen, flachen, eckigen Arbeiten voller Körperlichkeit, was auch an ihrem Entstehungsprozess liegen mag. Eigentlich immer sind es zwischenmenschliche Erfahrungen, Intimitäten, Gemüts- und Nervenzustände, die ihre Arbeiten bedingen. Und die äußern sich in Farben: »Ich sammle Farbzustände, im Kopf oder als schriftliche Notiz. Es kann sein, dass ich eine Uhrzeit notiere und einen Ort und das, was ich dabei gesehen habe«, sagt Virnich. »Daraus lege ich im Atelier eine Palette an. Dann reiße, schneide und stecke ich Stoffstücke erstmal zu einem groben Bild zusammen oder hänge die Stoffe lose an einen Rahmen.« Danach beginnt der nervenaufreibende Nähprozess, immer von Hand, Stich für Stich, mitunter begleitet von Wutausbrüchen.
Ich habe von Anfang an abstrakt gearbeitet, weil mir das am Vertrautesten war, und hatte gleichzeitig das Bedürfnis, mich von Malerei abzugrenzen
Anna Virnich
»Der Stich ist enorm wichtig«, erklärt sie, »während des Stechens korrespondiere ich mit der Arbeit.« Wenn die einzelnen Stoffe zusammengenäht sind, kommt das Aufziehen auf die Holzrahmen, das alles zum Ganzen fügt. Ein kraftvoller Akt, der schnelle, spontane Handgriffe erfordert und fast etwas Bildhauerisches hat, wenn sie die Stoffe zurecht zieht, bis die Nähte fast auseinanderplatzen — höchste Spannung, auf und vor dem Bild. Dann kommt der entscheidende Moment: »Entweder es sitzt, dann stellt sich eine fast kindliche Freude ein, oder ein Kribbeln, wenn es in die richtige Richtung geht, aber noch etwas nicht ganz stimmt. Manchmal kommt zunächst eine Enttäuschung, weil das fertige Ergebnis ganz anders wirkt als in der Vorstellung.«
Vor kurzem hat Anna Virnich zum ersten Mal mit figürlicher Malerei experimentiert, Ölkreide auf Leinwand, Blumenranken und Blüten, die Eingang in ihre neusten Stoffcollagen finden. »Gerade schließen sich in meiner Arbeit viele Kreise, ich verstehe jetzt viel mehr meinen eigenen Weg«, merkt Virnich an. Der führte sie, geboren 1984 in West-Berlin, in den 90er Jahren mit der Familie nach Köln, nach der Schule nach Berlin zum Film, zum Kunststudium nach Braunschweig und wieder zurück in die Hauptstadt. »Ich komme aus einer Künstlerfamilie und war immer von Kunst umgeben. Ich habe von Anfang an abstrakt gearbeitet, weil mir das am Vertrautesten war, und hatte gleichzeitig das Bedürfnis, mich von Malerei abzugrenzen. Figuration zuzulassen war ein super wichtiger Schritt.«
In ihrer Ausstellung bei Drei zeigt sie ihre neuste Werkreihe, die »Nervenkostüme«. Seit Ende 2022 entstehen diese Stoffcollagen als Zeugnisse eigener Emotionen. Ohne Rahmen, direkt auf der Wand hängen sie wie kleine stoffliche Stimmungsbilder. »Mutti raucht wieder« heißt die Ausstellung, denn sich selbst nicht zu ernst nehmen gehört genauso zu ihrer Praxis wie die Faszination für Stoffe als Stellvertreter für das menschliche Sein.
Drei, Jülicher Str. 14, 1.9.–4.11., Mi–Fr 14-18 Uhr, Sa 11–16 Uhr