Das Tier im Dschungel
1979, ein Club ohne Namen wird eröffnet, die Türsteherin trägt eine schwarze Kutte und kann Gesichter lesen (der Abspann nennt sie »La physionomiste«). Neben ihrem Amt als Einlasswächterin ist sie auch die allwissende Erzählerin, die durch die mysteriöse Geschichte von May und John führt — zwei schicksalhaft aneinander gefesselte Nachtgestalten, die sich in dem Pariser Club wie in einem Spinnennetz verfangen. John, ein gleichzeitig gehetzter wie phlegmatischer junger Mann, hat seit der Kindheit die Gewissheit, dass ihm etwas Großes, Lebensveränderndes zustoßen wird. May, flirrender Mittelpunkt ihrer Crowd, lässt sich von seinem Geheimnis infizieren und wird seine Komplizin. Umgeben von entfesselten, selbstvergessenen und ekstatischen Körpern im Tanz, von Glitter, Samt und Ketten, dem Licht der Discokugeln und dem Rauch der Nebelmaschinen, fiebern sie gemeinsam dem Unbekannten — dem wilden Tier — entgegen. Allein ein Fernseher hält die Verbindung zum Außen aufrecht.
Frei nach einer Kurzgeschichte von Henry James entfaltet Patric Chiha eine der Wirklichkeit entrückte Parallelwelt, einen Raum des hypnotischen Rauschs und des Versprechens. Während das besessene Paar über die Jahre mehr und mehr von Erschöpfung erfasst wird und sich von der Gemeinschaft isoliert, schreitet die Geschichte voran, verändern sich Moden, Musik und Tanzstile. Mitterrand wird zum Präsidenten gewählt, Klaus Nomi stirbt, die Verluste durch Aids lassen den Dancefloor zeitweise zum verwaisten Ort werden, die Berliner Mauer fällt, ein Flugzeug fliegt ins World Trade Center. Disco, New Wave, Acid, House, Industrial. Ein neues Jahrtausend bricht an. Der Club bekommt einen Namen: »The Beast in the Jungle«. Als May langsam dämmert, was das »Ding« sein könnte, wartet John noch immer.
Mit »Das Tier im Dschungel« begibt sich der in Paris lebende österreichische Filmemacher Patric Chiha auf verschlungenen Pfaden in das schillernde Reich der queeren Nachtclubs — und auf die Suche nach dem Geheimnis des Lebens. Im Zusammenspiel von Körpern, übergroßen Gesten und erwartungsvollen Gesichtern, von Bewegung und Stasis, Musik und Licht, Farben und Stoffen entsteht ein ganz eigener Erfahrungsraum, artifiziell und hochmelodramatisch. Dabei trifft Chiha in dem beschwörenden Gefühl von Erwartung und Verpassensangst eine emotionale Wahrheit nicht nur unserer Gegenwart.
(La Bête Dans La Jungle) F/B/A 2023, R: Patric Chiha, D: Anäis Demoustier, Tom Mercier, Béatrice Dalle, 100 Minuten