Anders arbeiten, anders denken, anders leben #1
Kollektiv plus
Ein Rundgang über das Gelände der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim — und ein Überblick über die Kollektiv-Bewegung und ihre Diskussionen
Ein warmer, sehr warmer Tag im Spätsommer, es sind Herbstferien. Träge kriecht die alte, fette Sonne über den Horizont, man merkt den Herbst schon, es dämmert ab 18 Uhr. Ich betrete den Hof der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM), und schönes Wetter, die ruhige Stimmung in der Stadt und die Atmosphäre vor Ort verschmelzen sofort. Im Hof scheint alles zwei Gänge zurückgeschaltet, unaufgeregt, friedlich — auch alteingesessen. Denn in der ehemaligen Schnapsbrennerei, idyllisch gelegen zwischen Rhein und Clevischem Ring, residiert das Kollektiv seit 1979, die ersten 14 Jahre als Besetzer, danach mit Mietvertrag.
Heinz Weinhausen kommt aus einem der Häuser, begrüßt mich und nimmt mich mit auf einen Rundgang. 25 Menschen gehören zum Kollektiv, gut 30 Leute wohnen derzeit auf dem Gelände, zu dem seit einigen Jahren auch die Halle am Rhein gehört. Wohnen? Wohnen und arbeiten. Heinz, 64 Jahre alt und seit 25 Jahren bei der SSM, betont: »Das gehört zusammen. Wer hier wohnt und kein Gast ist, der arbeitet auch hier. Bei uns ist alles ›Arbeit‹.« Auch unser Rundgang? Und das Gespräch, das wir im Anschluss über die SSM und die neue Kollektivbewegung in Köln und in Deutschland führen werden? Heinz nickt, auch das wäre Arbeit — Arbeit, die im weiteren Sinne dem Kollektiv zugute komme. Er habe unser Treffen auf dem Kollektiv-Plenum anmelden können, dann sei es im Wochenplan als Arbeit verzeichnet worden. Aber Heinz, der früher Krankenpfleger war, hat Urlaub. Den Rundgang mit mir macht er trotzdem gerne.
Die SSM lebt von Wohnungsauflösungen und Umzugshilfe, unterhält einen großen Gebrauchtwarenladen, sie vermieten die Halle am Rhein, ab und zu Gästewohnungen und im stolzen Produktionsgebäude der ehemaligen Schnapsbrennerei eine Etage für Tagungen oder Yoga-Kurse. Die SSMler haben sich selbst angestellt, bestreiten aus den Einnahmen den Unterhalt der Wohnungen und des Geländes, kaufen Nahrungsmittel und Essen für alle ein und zahlen sich darüber hinaus ein Gehalt, etwa in Höhe des Bürgergeldes. Dass Arbeit, Wohnen, Leben, Gemeinsamkeit und Politik miteinander verwachsen, ist Programm: Der SSM möchte sich so gut und so weit es geht den Marktmechanismen entziehen. »Wir wollen die Unterhaltskosten so gering wie möglich halten«, sagt Heinz. »Wir machen hier auf dem Gelände vieles selbst, die Renovierungen, den Ausbau der Halle am Rhein... Wir wollen den Geldbedarf so weit wie möglich reduzieren, um weitestgehend unabhängig zu bleiben«. Sie kochen zusammen, unternehmen gemeinsam Ausflüge, teilen sich die Arbeit untereinander immer wieder neu auf.
Die Basis ist: Ich will mich selbstbestimmt in ein Kollektiv einbringen, will Freiräume schaffen und nutzenHeinz Weinhausen
Noch vor wenigen Jahren hätten wir die SSM als eine Art soziales Urviech porträtiert: Schaut her, die gibt’s auch noch! Die Wurzeln der SSM sind noch älter, gehen auf die »68er-Jahre« zurück, in deren Folge sich in Köln eine Gruppe bildete, die mit geflüchteten Heimkindern arbeitete und sie vor der in den Heimen noch üblichen schwarzen Pädagogik schützte. Das war die Sozialistische Selbsthilfe Köln, die als SSK heute noch in Ehrenfeld und am Salierring existiert. Die 70er Jahre — das war die Zeit der Kommunen, der Alternativ-Ökonomie, der Hausbesetzungen, und Köln war eine Hochburg dieser Graswurzelbewegung, mittendrin die SSK und etwas später die SSM. Auch die Stadtrevue ist aus diesen Bewegungen entstanden. Lange her.
Aber es hat sich etwas getan. Plötzlich sind Orte wie die SSM wieder mittendrin. Überall in der Republik regen sich Kollektive, Gruppen von zumeist jungen Menschen, die gemeinsam arbeiten wollen — auf Augenhöhe, ohne Chef, ohne Untergebene, mit gleicher Bezahlung. Sie verbinden mit ihrer Arbeit ein Gegenmodell zur herrschenden Arbeits- und Wirtschaftsform: Werden Gewinne erzielt, werden sie entweder unter den Kollektiv-Mitgliedern verteilt oder fließen in soziale Projekte. Mittlerweile finden jährlich bundesweite Vernetzungstreffen der Kollektiv-Betriebe statt, die Infrastruktur stellt eine Lübecker Kommune bereit. Trafen sich vergangenes Jahr 55 Vertreter*innen aus 30 Kollektivbetrieben, so waren es dieses Jahr schon 80 Menschen aus 40 Betrieben. Die Website kollektivliste.org weist noch viel mehr Betriebe, Initiativen, Zusammenschlüsse und Gruppen auf. Die Berufsfelder und Branchen sind so vielfältig wie die Lebensmodelle, die dahinter stehen: Verlage stehen auf der Liste — die Stadtrevue natürlich, aber auch die Wochenzeitung Jungle World —, Clubs, Handwerker*innen- und Bau-Kollektive, Cafés, Bäckereien, Caterer, Freie Bildungsträger, IT-Betriebe, Fahrrad-Kuriere, Kinos, Sexshops, Gärtner*innen, Druckereien, Kneipen, Zusammenschlüsse von Care Workern, Trödelhändler. Manche Kollektive gibt es seit Jahrzehnten (wie die Stadtrevue), andere sind strikt nicht-kommerziell ausgerichtet, viele fangen gerade erst an.
»Das habe ich in dieser Größe noch nicht erlebt«, sagt Heinz über das jüngste Treffen in Lübeck, immer noch etwas erstaunt. »Es war super vorbereitet, da hatten Leute schon einige Erfahrung mit Kollektivarbeit. Es ging nicht nur um Praktisches — Austausch über Schwierigkeiten bei der Betriebsgründung, über Fördermöglichkeiten. Es ging auch um grundsätzliche Fragen: Was wollen wir eigentlich, wie stellen wir uns Kollektive vor?« Auch in Köln werden seit anderthalb Jahren in einem Arbeits- und Vernetzungskreis von Kollektiven diese Fragen diskutiert: SSM und Stadtrevue sind dabei, und Vertreter*innen aus mehr als 20 Kollektiven treffen sich alle drei Monate, um Grundsätzliches und Aktuelles zu diskutieren.
Was das Aktuelle ist, kann man sich leicht erschließen: So sucht das Party-Kollektiv krakelee Räume für einen nicht-kommerziellen, inklusiven Club, in dem queere und trans Menschen willkommen sind. Es geht also um praktische Fragen. Was sind aber die grundsätzlichen? »Einfach nur Kollektiv zu machen — das ist vielleicht zu wenig. Das bleibt noch in der marktwirtschaftlichen Logik hängen«, sagt Heinz. »Die grundsätzlich Frage lautet also: Worin unterscheidet sich das Arbeiten im Kollektiv vom marktförmigen Arbeiten?« Das ist tatsächlich die Frage aller Fragen.
Leute aus den unterschiedlichsten Kollektiven erzählen häufig die gleiche Geschichte: dass die Arbeit so viel Zeit in Anspruch nimmt, dass für politische Betätigung kaum noch Muße bleibt
Zunächst ist es so, dass heute immer mehr Menschen sich vorstellen können, anders zu arbeiten, nicht mehr an Karriere orientiert, ohne Hierarchien und mit Einheitslohn, in Betrieben, die angeschlossen sind an soziale und ökologische Projekte, die erwirtschaftete Gewinne dem Markt entziehen und zum Beispiel für linke politische Arbeit zur Verfügung stellen. Aber schon in dieser Auflistung verbergen sich Fragen und Probleme, die es in sich haben. So erzählen Leute aus den unterschiedlichsten Kollektiven häufig die gleiche Geschichte: dass die Arbeit im — und für das — Kollektiv so viel Zeit in Anspruch nehme, dass für politische Betätigung kaum noch Muße bleibe. Oder umgekehrt: Für viele bedeutet Arbeiten im Kollektiv wenig Geld zu verdienen, aber dafür mehr selbstbestimmte freie Zeit zur Verfügung und niemanden im Nacken zu haben, der herumbrüllt und Anweisungen gibt. Dann wäre die Arbeit im Kollektiv vor allem selbstgenügsam und nicht explizit politisch.
»Das ist doch die Basis: Ich will mich selbstbestimmt in ein Kollektiv einbringen, will Freiräume schaffen und nutzen. Das Selbstgenügsame – oder besser: andere Arbeiten – ist durchaus schon eine Errungenschaft«, betont Heinz. »Einen Chef zu haben, das ist mir unerträglich, und ich will auch keinem Befehle geben.« Aber es reicht nicht, der Grat ist schmal, der die Selbstgenügsamkeit trennt von dem Rückzug in die Nische, in die »Verinselung«, wie Heinz es nennt. Seine Vision ist deshalb: »Kollektive plus« Gemeint ist ein Commitment, über den eigenen Tellerrand zu schauen und sich zu fragen: »Wie können wir uns zusammentun, um die Marktwirtschaft zu entschärfen?« Wäre es möglich, betriebliche Überschüsse untereinander zu verteilen, einen überbetrieblichen Fonds für Notfälle einzurichten? Gegenseitige Praktika zu ermöglichen, um die Arbeitsteilung zwischen den Kollektiven aufzubrechen? Gemeinsam eine große Immobilien zu erstreiten, die ein Haus zum Wohnen und Arbeiten für möglichst viele Kollektive wäre? Vernetzt gegen Obdachlosigkeit und Wohnungsnot aktiv zu werden? Die Kollektive in der Öffentlichkeit so zu verankern, dass sie sichtbarer wären und ein gesellschaftliches Vorbild für anderes Arbeiten darstellen könnten? Das wären die Fragen — und es ist klar, dass die Kollektiv-Bewegung in Köln und in Deutschland diesbezüglich erst am Anfang steht.
Über Utopien wird in der Linken seit einigen Jahren verstärkt diskutiert, gerade aus dem Bedürfnis heraus, der Krise der Gegenwart mit ihren ökologischen, gesundheitlichen, politischen und ökonomischen Katastrophen etwas Positives gegenüberzustellen. Im August 2020, mitten in der Corona-Pandemie, fand in Leipzig mit 2000 digital zugeschalteten Teilnehmer*innen der Utopie-Kongress »Zukunft für alle« statt, der als gelungen galt und als Auftakt für die neuerliche Diskussion über Utopien.
Die Kollektiv-Bewegung mit ihren praktischen Fragen und dem unmittelbar greifbaren Problem, wie sich Arbeit, Leben, auch politische Aktivität miteinander verbinden lassen, hat das Zeug dazu, diese Utopie-Diskussionen zu erden. Sie mit den Mühen der Ebene zu konfrontieren, ohne die Utopien aufzugeben. Denn der Anspruch, dass wer anders arbeitet auch anders denkt und lebt — und zwar befreiter vom Druck der Konkurrenz und der Abhängigkeit vom Geld —, dieser Anspruch bleibt.
Wir sitzen in Heinz’ kleiner Kaffeeküche und unterhalten uns noch ein bisschen über historische Utopien, seine Vergangenheit in linken Kölner Gruppen und die Selbstorganisation in der SSM. Früher hätten sie schon im September das Heizen gestartet, jetzt ist Oktober und die Sonne brennt. »Es gibt keine Garantie, dass Kollektive Erfolg haben«, meint Heinz. »Egal, wie attraktiv die Bewegung im Moment erscheint. Aber es gibt eine Tradition.« Auf die kann man aufbauen, aus ihren Verirrungen lernen, aus ihren Erfolgen. Es geht immer weiter.