»Wien ist die Hauptfigur«
Herr Jedicke, in »Vienna Calling« porträtieren Sie die Wiener Musik- und Kulturszene. Was hat Sie an Wien so gereizt?
Ausschlaggebend war ein Abend. Als ich für meinen ersten Film »Shut Up And Play The Piano« in Wien war, lud mich ein Freund zu einem Wanda-Konzert ein. Nach dem Konzert lernten wir Einheimische kennen, die uns an lauter für uns unbekannte Orte führten. Es war eine dieser rauschhaften Nächte, und ich war einfach nur begeistert. In meiner Kindheit und Jugend hatte ich österreichische Musik von Falco, EAV und Kruder & Dorfmeister gehört, um die Jahrtausendwende war es aber stiller um die österreichische Musikszene geworden. An diesem Abend merkte ich: Hier geht jetzt wieder was. Hier ist gerade überall Musik!
Ihr Film rückt Menschen in den Mittelpunkt, die einem nicht-österreichischen Publikum kaum bekannt waren: das Rap-Duo EsRap und die nicht-binäre Rap-Person Kerosin95 ebenso wie den falcoesken Entertainer Gutlauninger, die liturgische Band Gebenedeit oder die Liedermacher Voodoo Jürgens und Nino aus Wien. Wie wurden die Protagonist:innen ausgewählt?
Das wichtigste Kriterium war für mich, dass mich die Person oder ihre Musik tief berührt. Und dass es deutschsprachige Bands sein sollten, weil mir der österreichische Zungenschlag wichtig war. Die Förderer haben viel Wert daraufgelegt, auch die großen zwei — Wanda und Bilderbuch — anzufragen. Für beide Bands ging es sich am Ende nicht aus, was ich aber gar nicht so schlimm finde, denn so ist der Film eben ein bisschen mehr underground. »Vienna Calling« hat nicht den Anspruch, eine Szene abzubilden, sondern will ein Gefühl für diese Stadt vermitteln. Wien ist die Hauptfigur.
Es wird unfassbar viel gesoffen und geraucht in Wien
»Vienna Calling« stellt die Frage, warum so viel gute Kunst und Musik aus der österreichischen Hauptstadt kommen. Haben Sie darauf eine Antwort gefunden?
Mehrere Antworten. Was in Wien besonders ist, ist die Infrastruktur: Auch wenn sich das leider gerade ändert, können es sich Künstler*innen immer noch leisten, im Stadtzentrum zu leben. Selbst im ersten Bezirk gibt es Gemeindebauten! So etwas gibt es in Berlin ja gar nicht mehr. Außerdem existiert FM4, ein staatlich finanziertes Radio, das häufig ganz rohe Diamanten spielt und dabei vom Großteil der musikinteressierten Menschen im Land gehört wird. In Österreich kannst du noch als sehr rohe, spannende Figur schnell Hörer:innen kriegen. Davon abgesehen ist die kompromisslose Ich-scheiß-mir-nix-Haltung in Wien toll. Da existieren Persönlichkeiten — Künstler*innen ebenso wie Manager:innen —, denen schneller fame zweitrangig ist. Sie wollen niemandem gefallen, sondern zufrieden sein mit dem, was sie tun.
Hat das mit einem spezifischen Lebensgefühl der Stadt zu tun?
Es wird unfassbar viel gesoffen und geraucht in Wien. Von außen gesehen geht es da nicht dauernd darum, topfit zu sein, sondern um künstlerische Selbstverwirklichung.
Der Manager Stefan Redelsteiner schlägt aber auch kritische Töne an. Er nennt die Wiener Szene einen »Rock’n’Roll-Swindle«, den man den deutschen Nachbar*innen nur vorspiele. Stimmt das?
Unser ganzer Film ist ja ein Schwindel, weil in ihm inszenierte Szenen nahtlos in dokumentarische übergehen. Aber ich mochte das: dass man sich beim Gucken die ganze Zeit fragt, was denn nun das Geheimnis Wiens ist, und dann kommt jemand am Schluss des Films und sagt: »Hey, wir haben euch die ganze Zeit nur verarscht.« Das ist durchaus auch selbstreferenziell. Ich frage mich selbst oft, ob die mich alle nur verarscht haben. Ich wollte aber auch dem deutschen Publikum zeigen, dass Wien eine viel unbekanntere Stadt ist, als wir häufig denken.
Köln ist seit vielen Jahren Ihre Wahlheimat. Wie würde ein Musikfilm über diese Stadt aussehen?
Ich war die letzten Jahre im Ausland und habe vieles nicht mitbekommen. Aber hier gibt es superaufregende neue Sachen! Zum Beispiel iedereen, die machen so High-Energy-Garagenrock. Die Hip-Hop-Szene Kölns ist toll, elektronische Acts wie Roosevelt. Oder großartige Produzent*innen und Studios, für die international bekannte Künstler*innen extra hierherkommen. Wir kriegen teilweise gar nicht mit, was für krasse Leute wir in Köln sitzen haben.
A/D 2023, R: Philipp Jedicke, 90 Min.