»Gewalt hat wahnsinnig viel mit uns zu tun«
In ihrem Debütfilm »Sterne über uns« ging es um eine alleinerziehende Mutter, die unverschuldet obdachlos wird, in »Monster im Kopf« um eine Frau, die im Gefängnis darum kämpft, ihr Baby behalten zu dürfen. Was interessiert sie an Frauen, die in Ausnahmesituationen zurechtkommen müssen?
Unser moralisches Urteil über Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Bei »Monster im Kopf« geht es auch darum, unser Wertesystem zu hinterfragen: Wie soll sich diese Frau unserer Meinung nach verhalten, was verlangen wir von ihr und inwiefern geben wir ihr eine Chance? Man findet sich in einem Paradox wieder, weil man auf der einen Seite will, dass sie Verantwortung für ihre Tat übernimmt, sie auf der anderen Seite aber jeglicher Freiheit beraubt, das aus eigener Kraft zu tun. Nicht nur durch das Gefängnis, sondern auch dadurch, wie unsere Idee von Resozialisierung, von Schuld und Vergebung funktioniert. Ich habe das Gefühl, wir haben einen wahnsinnig strengen Blick auf diese Menschen, und frage mich, ob wir so hart über sie urteilen können. Was ich interessant finde, ist, wenn man gezwungen wird, sich mit einer Figur auseinanderzusetzen, wenn man an sie herangeführt wird und dann hin und her gerissen ist, weil in einem gärt, dass man sie auf der einen Seite mag, sie aber andererseits auch immer wieder ablehnt und ihr Handeln nicht verstehen kann.
Ich setze Übertreibung ein, um etwas sichtbar zu machen
Frauen wie Sandra, die wütend und aggressiv sind, ist das noch ein Tabu?
Nein. Ich weiß nicht, ob man heute überhaupt noch Tabus hat. Ich finde Gewalt hat wahnsinnig viel mit uns zu tun. Wir verurteilen Gewalt, weil unsere gesellschaftliche Verabredung sein muss, dass wir sie nicht akzeptieren. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wo überall Gewalt stattfindet, die wir stillschweigend akzeptieren, weil sie nicht laut ist, in Arbeitsverhältnissen etwa. Dort lassen wir sie ebenso selbstverständlich zu, wie wir sie an anderer Stelle verurteilen. Was erwächst daraus? In allen Welten, in denen Sandra sich bewegt, existieren starke Regeln. In der Fleischfabrik, in der sie arbeitet, im Krankenhaus, in das sie eingeliefert wird, im Gefängnis, in der Tuner-Szene ihres Freundes, im Pflegesystem, überall herrscht ein strenges Regelwerk, dem sich der Mensch unterwerfen soll, wobei sich die Frage stellt, ob er nicht darunter leidet, weil das auch eine Form von Gewalt ist. Was macht es mit einem, wenn man auf Dauer eine solch harte Arbeit wie in der Fleischfabrik machen muss, welche Perspektive hat man? Warum glauben wir nicht, dass das Menschen unter Druck setzt und an den Rand treibt?
Sie arbeiten erneut mit Franziska Hartmann als Hauptdarstellerin zusammen. Hatten Sie sie bei der Rolle direkt im Kopf?
Ja, aber wenn ich das Buch schreibe, sind die Figuren noch nicht so stark ausgearbeitet. In den Proben füllen die Schauspieler*innen die Figuren aus und wir entwickeln sie zusammen. Bei der Zusammenarbeit mit Franziska Hartmann ging es darum, eine Figur zu schaffen, die einen immer wieder an die eigenen Grenzen bringt, weil mich ihre Handlungen manchmal sogar abstoßen, deren Innenwelt sich nicht so recht greifen lässt — für die ich gleichzeitig jedoch eine große Empathie empfinde.
Sie behandeln Themen, die unbequem sind, und setzen Sie sehr lebensnah um. Sehen Sie sich in einer bestimmten Tradition, gibt es Vorbilder?
Ich setze Übertreibung ein, um etwas sichtbar zu machen. Diese Frau in diesen verschiedenen Welten zu zeigen, überhöht das Thema Gewalt und spitzt es stark zu. Die Inszenierung ist dann so lebensnah, dass ich der Geschichte Glauben schenken kann, dass es in diesem Extrem etwas gibt, das echt ist und mit jedem Menschen zu tun hat. Es gibt viele Filmemacher, die ich toll finde und deren Arbeit ich bewundere. Da wären sowohl die Dardenne-Brüder als auch John Cassavetes oder Paul Thomas Anderson.
D 2023, R: Christina Ebelt, D: Franziska Hartmann, Slavko Popadic, Martina Eitner-Acheampong