Die Theorie von Allem
Wie lassen sich in Zeiten, in denen Multiversen in Mega-Blockbustern zum Fetisch werden, parallele Wirklichkeiten intelligenter und formal ambitionierter inszenieren? Der 1985 in Schleswig-Holstein geborene Timm Kröger wagt sich in seinem ersten Spielfilm an smartes Genre-Kino und hat nicht nur auf dem Filmfest in Venedig für Furore gesorgt. Ausgangspunkt von »Die Theorie von Allem« ist ein Physikerkongress in den Schweizer Alpen, wo sich 1962 die weltweite Wissenschafts-Elite versammelt hat. Ein iranischer Physiker soll einen bahnbrechenden Vortrag zur Quantenmechanik halten. Der Kongress zieht auch den renommierten Dr. Julius Strathen (Hanns Zischler) und dessen ambitionierten Doktoranden Johannes Leinert (Jan Bülow) an. Bereits im Zug treffen sie auf Professor Blumberg (Gottfried Breitfuss), einen langjährigen Rivalen Strathens, der sehr viel mehr Interesse für die Abschlussarbeit des jungen Kollegen zeigt als der strenge Doktorvater selbst. Während sich die Ankunft des mit Spannung erwarteten Redners und damit der Kongressbeginn verzögert, vertreiben sich die Gäste die Zeit mit Skiausflügen und eleganten Dinnerpartys. Johannes ist von der jungen Pianistin Karin Honig (Olivia Ross) fasziniert, die Dinge über ihn weiß, die er niemandem erzählt hat. Plötzlich stirbt Blumberg unter mysteriösen Umständen.
Zwei Ermittler tauchen auf, die geradewegs einem Edgar-Wallace-Film entsprungen sein könnten. Weitere Tote sind bald zu beklagen, und tief im Berg werden unterirdische Tunnel entdeckt. Als zudem merkwürdige Wolkenformationen am Himmel auftauchen, ist sich Leinert sicher, einer metaphysischen Verschwörung auf der Spur zu sein. Wie eine Zentrifuge beschleunigt Krögers atmosphärischer Science-Fictiton-Thriller Wissenschaft, deutsche Geschichte und kulturelle Referenzen, bis ein Schwindel erregenden Vexierspiel des Unheimlichen entsteht. Kröger nutzt Elemente des film noir der 40er und 50er Jahre ebenso wie bundesdeutsche Nachkriegskrimis, die Bildgestalter Roland Stuprich in kontrastreichem Schwarzweiß-Cinemascope visualisiert. Die opulente Filmmusik von Diego Ramos Rodriguez wandelt ganz bewusst auf Hitchcocks Spuren. Doch bei allem Retro-Touch wirkt das nie beliebig, sondern in sich stimmig und stilsicher. Ein düster funkelndes, abgründiges Kino-Juwel, das raffiniert existenzielle Fragen aufwirft.
D/A/CH 2023, R: Timm Kröger, D: Jan Bülow, Olivia Ross, Hanns Zischler, 118 Min.