Charme und Chuzpe

Tori und Lokita

Die Dardenne-Brüder begnügen sich längst nicht mehr mit schonungslosem Realismus

Einst waren die belgischen Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne für ihre fast dokumentarisch anmutenden Filme bekannt: für eine Handkamera, die nah an ihren Pro­tagonisten aus der Arbei­ter­klasse blieb; für wie aus dem Leben gegriffene Figuren, die sie bei ihren Versuchen beobachteten, in einer kalten, harschen Welt zu überleben. Es waren sozialrealistische Filme wie »Rosetta« oder »Das Kind«, beide in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. Doch vor einigen Jahren hat sich der Ansatz der Dardenne-Brüder verändert, werden ihre Filme agitatorischer, begnügen sie sich nicht mehr damit, Emotio­nen durch eine genaue wie schonungslose Darstellung der Wirklichkeit zu erzeugen. Das Ergebnis sind Filme wie »Das unbekannte Mädchen«, »Young Ahmed« oder nun »Tori und Lokita«, die sprichwörtliche »heiße Eisen« anpacken, diese aber in einer emotionalisierten Weise darstellen, die bisweilen an populistisches Exploitation-Kino erinnert — was umso bedauerlicher erscheint, da die Figuren der Dardennes und die Laiendarsteller*in­nen, die sie verkörpern, im Ansatz immer noch überzeugen. So wie die etwa 16jährige Lokita (Joely Mbundu) und der jüngere Tori (Pablo Schils), Flüchtlinge aus Westafrika, die sich in Belgien mit Gelegenheitsjobs und Drogen­han­del über Wasser halten. Während Tori eine Aufenthaltsgenehmigung hat, ist Lokita von der Ausweisung bedroht, weswegen sie sich als Schwester von Tori ausgibt. Eine DNA-Analyse soll Klarheit schaffen, die Freiheit der Kinder ist bedroht. Nur eine letzte Chance sieht Lokita noch, an belgische Papiere zu kommen.

Natürlich muss man Sympathien für die beiden Refugees haben, die sich mit Charme und Chuzpe in einer Welt durchschlagen, die sie ausbeutet. Und natürlich sind die Dardenne-Brüder nach 30 Jahren als Regisseure souverän genug, um mit stilistischen Methoden Empathie zu erzeugen. Als Autoren machen sie aber inzwischen nicht mehr vor manipulativen Wendungen halt und scheuen sich auch nicht, ihre Figuren zu Symbolen zu machen, die die Missstände des belgischen und des europäischen Asylsystems anprangern sollen. Vielleicht ist es die Wut auf die unverändert un­trag­baren Zustände, die den filmischen Ansatz der Dardennes verändert hat — von ihrem einst so brillant zurückhaltenden und gerade dadurch so berührenden Stil haben sie sich inzwischen weit entfernt. 

(Tori et Lokita) B/F 2022, R: Luc und Jean-Pierre Dardenne, D: Joely Mbundu, Pablo Schils, Alban Ukaj, 88 Min.