Ein Freiraum zum Experimentieren
Es dauert eine Weile, bis wir alle an dem großen Holztisch zusammen kommen. Denn erst mal werden an diesem grauen Novembernachmittag Fotos für diesen Aufmacher gemacht: draußen im Garten, bei Nieselregen zwischen wildwachsenden Sträuchern, weil die rote Hausfassade dort so schön leuchtet. Und dann, da fängt es bereits zu dämmern an, drinnen im Büro: Nils Rottgardt springt spontan als Beleuchter ein, richtet Scheinwerfer an die Zimmerdecke, stellt sich für die Fotografin wieder an den richtigen Platz, justiert noch einmal nach. »Ist ja alles da«, sagt er lachend mit Blick auf die Lampen und blauen Neonleuchtröhren, die an der Wand lehnen, und eigentlich für Produktionen auf der Bühne genutzt werden. Bei Un-Label, der Kölner »Performing Arts Company«, die Kulturschaffende mit und ohne Behinderung aus ganz Europa vernetzt.
Sich auch kurzfristig auf Veränderungen einzustellen — für Nils Rottgardt, Künstlerischer Leiter von Un-Label, und der Gründerin und Leiterin Lisette Reuter ist das schlicht und ergreifend Teil ihres Berufes. Denn um Veränderung geht es ihnen; darum, die Kulturszene zu öffnen, für Menschen mit unterschiedlichen Sensibilitäten und Behinderungen. Aber nicht bloß, indem etwa ein Theaterstück in Gebärdensprache gedolmetscht wird, oder man audiodeskriptiv beschreibt, was auf der Bühne passiert. Nein, ihr Ansatz lautet: »Aesthetics of Access«. Also ein künstlerisches Werk von Beginn an so zu entwickeln, zu erschaffen, dass es überhaupt keine Barrieren gibt, die nachträglich durch verschiedene Mittel und Methoden ausgeglichen oder übersetzt werden müssen.
Nach jahrelanger Arbeit — in der Kulturszene ist Un-Label heute fest etabliert — haben sie in der Hoster Straße in Neuehrenfeld vor ein paar Wochen ihr eigenes Studio eröffnet. Ein roter Flachbau, direkt um die Ecke der Haltestelle »Lenauplatz«, die, für die KVB eine Seltenheit, auch barrierefrei ist. »Das ist ganz wichtig für die Zugänglichkeit von so einem Raum«, sagt Nils Rottgardt. »Dass er auch problemlos zu erreichen ist.« In den kommenden Jahren wird das Un-Label Studio seine Türen als Probeort für die freie Szene öffnen, Künstler*innen mit Behinderung zu Residenzen einladen und Masterclasses mit internationalen Künstler*innen anbieten, etwa zu Gebärdenpoesie, Crip-Choreografie — oder Visual Vernacular. Das ist eine Kunstform, die ihren Ursprung in der Gebärdensprache hat, durch Computerspiele, 3D-Animationen und Filme beeinflusst wurde, und Geschichten mittels Körperbewegung, Symbolen, Gesten und intensiven Gesichtsausdrücken erzählt. »Das Studio soll ein Ort der Vernetzung sein. Ein Freiraum, an dem neue künstlerische Mittel entwickelt werden, die die Künstler*innen dann raus in die Welt tragen«, sagt Nils Rottgardt.
In Köln schließt Un-Label eine Lücke, denn: »Barrierefreie Probeorte gibt es kaum in der Stadt«, erzählt Lisette Reuter. Im Studio in Ehrenfeld dagegen einen Kursraum, 130 Quadratmeter groß, mit Tanzschwingboden, großer Spiegelwand und einer Fensterfront zur Straße, die den Raum hell und freundlich wirken lässt. Dazu einen Büroraum, ein Besprechungszimmer, in dem man beisammen sitzen kann, jede Menge Lagerfläche, denn das Gebäude ist komplett unterkellert — und einen großzügigen Garten. Bis vor kurzem hatte hier noch der Verein Pusteblume sein Zentrum, eine Kooperation der Ehrenfelder Wohnungsgenossenschaft, die Eigentümerin des Gebäudes ist. Lisette Reuter war Vorsitzende des Vereins, der Kurse für die Nachbar*innenschaft anbot:
Tanz- und Musikkurse für Kinder, Wirbelsäulengymnastik und Stressbewältigungsseminare für Erwachsene. Doch im Verlauf der Corona-Pandemie und der Inflation kam der Verein in finanzielle Engpässe. »Wir waren auf dem Weg in die Insolvenz und mussten schweren Herzens im Vorstand die Entscheidung treffen, das Zentrum nach fast 30 Jahren zu schließen«, erzählt Lisette Reuter. Das war Ende 2022 — und weil die Ehrenfelder Wohnungsgenossenschaft das Gebäude weiterhin gemeinnützigen Zwecken zur Verfügung stellen wollte, war für Lisette Reuter klar: »Wir müssen diesen in Köln absolut außergewöhnlichen Ort als besonderen Treffpunkt und Vernetzungsraum erhalten.«
Es gibt kaum barrierefreie Probeorte in der StadtLisette Reuter
Zahlreiche Förderanträge später sind sie seit Anfang Oktober nun also hier, in dem frisch renovierten Studio, in dem es in den nächsten Wochen darum gehen wird, erst einmal Bedingungen zu schaffen, die das künstlerische Arbeiten mit unterschiedlichen Sensibilitäten und Einschränkungen in den Räumen überhaupt ermöglichen. »Das fängt, ganz banal, bei unseren Seminarmöbeln an«, sagt Nils Rottgardt. Erst vor kurzem haben sie bemerkt, dass gerade für Menschen mit Sehbehinderungen der Kontrast fehlt: »Die hellen Holzhocker sind auf dem fast gleichfarbigen Holzfußboden einfach nicht gut sichtbar.« Aber auch ein spezielles Audiosystem soll installiert werden, damit taube Menschen mit Akustik arbeiten können — und die Räume müssen mit Diffusoren, also speziellen Deckenplatten, ausgestattet werden, die gerade in dem großen Proberaum für einen besseren Klang sorgen. »Ein Faktor, der zum Beispiel für autistische Menschen wichtig sein kann: damit es keinen unangenehmen Hall gibt, der Konzentration und Zuhören erschwert«, sagt Nils Rottgardt.
Neben dem Programm von Un-Label wird das Studio auch an andere Vereine, Theaterensemble und Tanzkompanien vermietet. Im Moment probt hier etwa die Offene Jazz Haus Schule mit ihrem mixed-abled Community-Orchester. Der Schauspieler und Theaterregisseur Stefan Herrmann kommt mit dem Kollektiv »the beautiful minds«, einer Gruppe von Kölner Sinti*zze und Rom*ja. »Dadurch dass unsere Miete für Kölner Verhältnisse noch günstig ist, können wir den Raum auch recht kostengünstig weitergeben«, sagt Lisette Reuter. »Uns ist dabei ganz wichtig, unserer Vision treu zu bleiben: Wer hier probt, muss einen intersektionalen, inklusiven Ansatz haben.«
Auch die Arbeit an Nils Rottgardts Inszenierung der »Winterreise«, dem Liederzyklus aus 24 Strophen von Franz Schubert, hat hier bereits begonnen — mit einem mixed-abled-Ensemble und einer Regisseurin aus dem Musiktheater und der Oper. »Wir wollen Schubert als zeitlosen Materialsteinbruch überprüfen«, sagt er. »Und fragen: Was können wir rausholen, unter dem Einsatz von aesthetics of access?« Fest steht: Der Ansatz bietet eine Vielzahl berauschender, inspirierender Möglichkeiten für die Kunst. Gut, dass Köln nun einen Freiraum des Experimentierens hat.
Un-Label e.V., Hosterstr. 1–5, 50825 Köln, un-label.eu