»Hunderte Familien verschwinden in Aktenschränken«: Notstand im Jugendamt, Foto: Pexels / Ibrahem Bana

Ohne Obhut

Die Jugendämter sind am Limit — das ist schon schon lange bekannt. Ein Bürgermeister hat sich nun mit einen Brandbrief an die Landesregierung gewandt

»Die Mitarbeiter*innen der Jugend­ämter stehen nahezu ohnmächtig dem Problem der fehlenden Plätze für schutzbedürftige Kinder und Jugendliche gegenüber«, schrieb André Dora an den NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU). Dora (SPD) ist Bürgermeister in Datteln, einer kleinen Stadt im nördlichen Ruhrgebiet, und hat sich im Oktober in einem Brandbrief an die nordrhein-westfälische Landesregierung gewandt. Die Mitarbeiter*innen in den Jugendämtern seien an der Belastungsgrenze angekommen — auch weil es immer mehr Kinder und Jugendliche gäbe, die geschützt und teilweise von Zuhause raus geholt werden müssten.

Dass die Jugendämter am Limit sind, ist schon seit langem ­bekannt. Bereits im März 2023 protestierten in Köln mehr als hundert Mitarbeitende des All­gemeinen Sozialen Dienstes (ASD) und des Gefährdungssofortdienstes (GSD) der Kölner Jugendämter, der Grund: massiver Personalmangel. Nach Angaben der Gewerkschaft Verdi habe er dazu geführt, dass rund 1.800 Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen in Köln nicht durchgeführt wurden. Auf einem Plakat bei der Protestaktion vor dem Rathaus stand: »Hunderte Familien verschwinden in Aktenschränken!«

Die Mitarbeiter*innen der Jugendämter sind an ihrer Belastungsgrenze angekommenAndré Dora

André Dora macht in seinem Brandbrief aber auch noch auf ein anderes Problem aufmerksam. Denn zusätzlich zum Problem des Personalmangels sei auch die Zahl der vorläufigen Schutzmaßnahmen, also Inobhutnahmen, die die Jugendämter ergreifen müssen, gestiegen: Im Juni veröffentlichte die nordrhein-westfälische Landesregierung dazu neue Zahlen. Demnach haben die Jugendämter im Jahr 2022 rund 36 Prozent mehr Inobhutnahmen landesweit als im Vorjahr ergriffen. Das entsprach 16.546 betroffenen Kindern und Jugendlichen, die kurzfristig in einer Einrichtung untergebracht werden mussten.

Laut der nordrhein-westfälischen Landesregierung handele es sich bei den Fällen, in denen Schutzmaßnahmen ergriffen werden mussten, vor allem um unbegleitete minderjährige Geflüchtete:  Allein 2022 waren das mit 6.529 Kindern und Jugendlichen rund 162 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Aber auch Überforderung der Eltern (25,7 Prozent) und Anzeichen von Vernachlässigung (11 Prozent) waren Gründe für eine Inobhutnahme. Bei diesen Menschen müssten die Jugendämter immer kurzfristig Lösungen finden, so André  Dora. Das Problem: Auch die Einrichtungen selbst sind überlastet und nicht immer lassen sich dort freie Plätze finden. »Zuletzt musste das Jugendamt der Stadt Datteln im Rahmen einer Inobhutnahme mehr als 100 Einrichtungen anfragen, um eine entsprechende Schutzstelle zu finden«, schreibt Dora in seinem Brandbrief. »Die Zeit, die für diese Telefonate aufgewendet werden muss, steht den Hilfesuchenden nicht zur Verfügung.« Dora fordert deshalb »ein ausreichendes Angebot an Einrichtungen« — und ein zentrales landesweites Melderegister, in dem freie Plätze vermerkt werden.

Ob das die Lösung sein kann, ist fraglich, denn laut dem bundes- und landesweiten Verteilungsverfahren, dem unbegleitete minderjährige Geflüchtete seit November 2015 unterliegen, können sie in NRW, aber auch in einem anderen Bundesland untergebracht werden. Gleiches gilt dementsprechend auch für Kinder und Jugendliche, die womöglich aus anderen Städten und Kommunen nach NRW kommen. Eine Abhilfe könnte also nur ein bundesweites Register schaffen, auf das alle Jugendämter Zugriff haben.