All of Us Strangers
Wir begegnen Adam (Andrew Scott) in den ersten Minuten des Films in seiner Hochhaus-Wohnung. Das Gebäude und die Welt drumherum scheinen unbewohnt. Gedämmtes Licht und Abendstimmung schaffen eine Stimmung zwischen Romantik und Horror. Doch eines Tages entdeckt Adam in einer erleuchteten Wohnung Harry (Paul Mescal), der kurz darauf angetrunken und mit einer Flasche japanischem Whiskey vor Adams Tür auftaucht. Während Adam diesen ersten Flirtversuch zurückweist, entwickelt sich der Film zu einem traumartigen queeren Liebesfilm. Adam und Harry lernen sich kennen, verbringen gefühlte Stunden und Tage in Adams Wohnung, teilen Zuneigung und Zärtlichkeiten. Die zugrundeliegenden Themen, die in den Gesprächen der beiden verwoben werden, sind queere Identität, das Älterwerden und Adams Beziehung zu seinen Eltern, die starben, als er zwölf war.
Diese eher schweren Themen zu verarbeiten und dabei den Aufbau einer Beziehung zu porträtieren, die so delikat, so zärtlich und zugleich aufregend ist, ist der fantastischen schauspielerischen Leistung von Andrew Scott und Paul Mescal geschuldet. Die beiden spielen einander auf leise und vorsichtige Art in den 105 Minuten regelrecht an die Wand. Es geht niemals darum, sich auf eine Seite zu stellen, vielmehr darum, dem Sog standzuhalten, der durch die Chemie zwischen den beiden Figuren entsteht. Das Ganze wird unterstützt durch ein nahezu traumartiges Licht und Szenenbild. Es wird nie so ganz Tag, wenn Adam und Harry in der Wohnung sind. Ein dauerhafter Zwischenzustand zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Mehr Romantik ist kaum möglich, ohne in Kitsch zu verfallen.
Mehr Romantik ist kaum möglich, ohne in Kitsch zu verfallen
Während wir Harry überwiegend in Adams Wohnung und in der Beziehung der beiden kennenlernen, fährt Adam zu seinem Elternhaus und begegnet dort, ohne Erklärung wie dies möglich ist, seinen verstorbenen Eltern, gespielt von Claire Foy und Jamie Bell. Alle drei befinden sich etwa im selben Alter. Es kommt eine der Kernfragen ins Spiel, die Regisseur Andrew Haigh in Interviews zum Film immer wieder erwähnt: »Was würdest du deinen Eltern sagen, wenn du sie einmal im selben Alter wie du treffen könntest?« Adam bespricht mit ihnen sein Coming-Out, die Schwierigkeiten, die er als Junge in der Schule und zuhause hatte und die frühere Beziehung zwischen den Eltern und ihm. Auch wenn diese Themen schwer auszuhalten sind, bieten sie zugleich unglaubliches Identifikationspotential, und ihm eine Art Heilung. Adam kann sich von seinen Eltern das holen, was er als Kind gebraucht hätte — Zuneigung, bedingungslose Liebe, Unterstützung und Verständnis. Vielleicht gerade dadurch, dass sie nicht mehr am Leben sind. Auch wenn Szenen wie jene, in der Adam im Kinder-Schlafanzug ins Bett seiner Eltern kriecht und dort übernachtet, teilweise Unbehagen auslösen, hat es doch etwas sehr Befreiendes, ihm dabei zuzuschauen, wie er seinen kindlichen Bedürfnissen nach Liebe und Nähe nachgehen kann.
Doch schon bald scheinen die Dinge aus dem Ruder zu geraten. Die Grenze zwischen Realität und Adams Einbildungen verschwimmt immer mehr. Von Fiebertraum über Ketamin-Rausch zu Visionen seines jüngeren Ichs in der U-Bahn hangeln wir uns mit Adam durch seine Geschichte. Spätestens als Harry das erste Mal mit zu Adams Elternhaus reist und für einen kurzen Augenblick die Geister von Adams Eltern erhascht, wird klar, dass die Welt, in der wir uns bewegen, noch weniger »stimmt«, als wir bisher angenommen haben. Irgendwie hat es Andrew Haigh geschafft, dass wir die Filmwirklichkeit schon nach kurzer Zeit so hinnehmen, wie sie ist. Umso schmerzhafter die Erkenntnis, dass es Zeit ist, sich zu verabschieden. Und während wir noch denken, dass der Abschied von Adams Eltern das Ende des Films ausmacht, verpasst uns Haigh in den letzten Minuten einen schmerzhaften Schlag in die Magengrube. Spätestens wenn der Song »The Power of Love« einsetzt und Adam und Harry umarmt im Bett liegen, sitzen wir eingesunken in den Kinosesseln und versuchen mit unseren Gefühlen umzugehen. Die Kraft der Liebe überwiegt in »All Of Us Strangers« und lässt uns mit einer warmen Traurigkeit zurück.
GB/USA 2023, R: Andrew Haigh
D: Paul Mescal, Andrew Scott, Claire Foy
105 Min., Start: 8.2.