Geerbtes Trauma
Im Jahr 1942 war Netty 14 Jahre alt. Erst trug sie geschockt den gelben Stern, dann tauchte sie unter. Die Schauspielerin mit der riesigen Maske eines kleinen Mädchens sitzt auf der Bühne und erzählt, wie es kribbelte beim stundenlangen Stillsitzen im kleinen Zimmer, mit gähnender Langeweile und permanenter Angst. Es ist die wahre Geschichte der Großmutter der Performerin Lara Pietjou, die ebenfalls mitspielt. Was hat das mit der Familie gemacht? Kann sich das Trauma einer jungen verfolgten Jüdin weitervererben, Identität prägen? Aber was ist das überhaupt?
Mit schwarzem Frack und Maske kommt nun eine Männer-Maske, Laras Vater, auf die Bühne, schwenkt duftenden Weihrauch. Einst spielte er Englisches Horn im Rheinischen Philharmonieorchester, war erfolgreicher Musiker. Doch dann geriet er in eine manische Depression, rauchte exzessiv Cannabis, steigerte sich in absurde Kaufräusche. Irgendwann wurde Laras Vater dann in die Psychiatrie gebracht, sich wähnend als jüdischer König David. Hatte sich das Schicksal der so qualvoll untergetauchten Mutter auf ihn vererbt?
Seit Jahren gibt es Forschungen zu »intergenerationellen Traumata«. Es war erst nach seinem Tod, dass Lara Pietjou im Nachlass Zeugnisse über ihre jüdische Großmutter fand. Der Theaterabend »Mein Vater war König David« erzählt ihre Familiengeschichte mit wunderschönen Masken (Eva Sauermann), die auf der Bühne heilsame Aura entwickeln: als Platzhalter der Menschlichkeit kreieren sie Nähe und Distanz zugleich, erheben die Einzelgeschichte zum Symbol, auch weil Laras Geschichte stets auf drei Performer*innen Hanna Held, Dorothea Förtsch, Ingmar Skrinjar verteilt wird.
Am Ende kann sich die verlassene Tochter befreien: Mädchen- und Vatermaske tanzen gemeinsam einen übermütigen Tanz, die Überwindung von Schmerz ist möglich. »Identität? Die habe ich nur mit dem BVB«, hat Lara Pietjou am Ende trotzig das letzte Wort.
Daniel Schüßler und dem Analog-Theater gelingt ein berührender, kluger und tiefer Abend. Großartig ist auch, dass man danach nicht allein bleibt: Nach jeder Vorstellung gibt es Chili sin Carne und ein Tischgespräch mit einem täglich wechselnden Gast, der über oft verblüffende und lebendige Aspekte jüdischen Lebens spricht. Denn dem wurde in Deutschland auch vor dem 7. Oktober oft verkrampft und mit schlechtem Gewissen begegnet.
Orangerie Theater, 21.–24.2., 2o Uhr; 25.2., 18 Uhr