Verteidigung des Mitläufers
Ach, ständig wird man heute angehalten, etwas zu kommentieren! Man wird geradezu um eine Meinungsbekundung angebettelt. Das verbale Schulterzucken, die Enthaltung, ist verdächtig. Als eine bewusste Entscheidung, als kraftvolle Bekundung, wird sie nicht wahrgenommen, sondern als mentale und moralische Trägheit. Wer nicht dafür ist, ist dagegen, heißt es. Längst hat der Daumen, der nach unten oder oben zeigt, den ausgestreckten Mittelfinger als auftrumpfende Geste abgelöst.
Wie aber bildet man sich eine Meinung? Tja, die meisten werden sagen, dass sie sich umfassend aus seriösen Quellen informieren, dabei alle vorgebrachten Argumente auf ihre Stichhaltigkeit hin prüfen und dann nach ausgiebiger Abwägung, und trotz der Komplexität, die ja jeder Sachverhalt bei genauer Betrachtung leider offenbart, zu einer vernünftig begründeten Meinung gelangen — aber das stimmt ja alles gar nicht! Es wäre auch viel zu zeitraubend. Stattdessen schaut man, welche Meinung andere vertreten und entscheidet dann, ob man zu denen gehören will oder gerade nicht. Oder man hält den Mund und denkt sich seinen Teil, nicht wahr?
Gewiss, man kann seine Meinungen davon unabhängig auf ein letztes Prinzip gründen und etwa fragen: Ist das gut? Ist das gerecht? Ist das schön? Bloß, was genau ist noch mal das Gute, das Gerechte, das Schöne? Ist es gerecht, dass ich Gesine Stabroth vieles nachsehe, was ich Tobse Bongartz niemals durchgehen ließe? Ist es gut, dass ich Gesine Stabroth die ersehnte »Premium-Nostalgie-Lichterkette« für den Flur schenke — eine Lichterkette, deren Lieferketten zweifelsfrei auch Glieder haben, die in zwielichtigen Staatsgebilden geschmiedet werden? Und ist so eine Lichterkette im Flur wirklich schön? Oder ist sie, wie Tobse Bongartz sagt, »krass geschmackloses 90er-Lametta, sorry jetzt, aber ich hab da ne klare Meinung, ne...«?
Damit sind wir dann also bei Fragen des Geschmacks, der sich auf ganz ähnliche Weise bildet wie unsere Meinungen. Das, was wie etwas ganz Unabhängiges erscheinen soll, bestärkt doch stets nur den Kodex einer Clique. Ein interessantes Gedankenspiel ist es, zu überlegen, welche Ansichten, die wir heute vertreten, uns in zehn Jahren unangenehm sein werden. Es wird sie geben. Höchst unwahrscheinlich ist es, dass wir später behaupten können, wie unabhängig unser Geist war, wie sehr wir die Zeitläufte distanziert betrachtet haben. Ja, wir werden Mitläufer gewesen sein.
Nur Schlechtes ist über den Mitläufer zu hören. Er habe kein Rückgrat und keinen eigenen Kopf, ein Beschädigter aus freien Stücken, der sich aus Bequemlichkeit mit dem Strom treiben lässt. Man kann das so betrachten und tadeln. Allerdings: Womöglich ist es gar nicht so wichtig, ob wir selbst die Richtung wählen, in die es geht — sondern wohin diese Richtung führt. Und man sollte sich nicht einreden, man selbst sei anders, unabhängig. Denn wie viele Geschmacksurteile fällen wir, wie viele Meinungen vertreten wir, die für Aufsehen in unserem Umfeld sorgen?
Gesine Stabroth jedoch hat jetzt die Lichterkette im Flur hängen. Ich mag die Farben der Lichter. Sie erinnern mich an etwas Angenehmes, ich kann nicht sagen, warum ich das schön finde. Ich werde diese Lichterkette gegenüber Tobse Bongartz verteidigen! Daumen hoch! Ich meine: Das ist eine verflixt pfiffige Einrichtungsidee von Gesine Stabroth! Ich werde mir allerdings noch etwas ausdenken müssen, wie ich diese Meinung gegenüber Tobse Bongartz begründe. Ob er mir dann so eine schicke Lichterkette zum Geburtstag schenkt?