Etikette ohne Serviette
Dass man gemeinsam mit dem Essen beginnt; dass man mit vollem Mund nicht spricht; dass man die Finger an der Serviette abputzt und nicht ablutscht — Benimmbücher, die sich mit dem Besuch im Restaurant oder privaten Einladungen zum Essen befassen und solche Regeln aufstellen, die gibt es kaum noch. Man kann das als Indiz dafür nehmen, dass sich ein ungezwungener Lebensstil durchgesetzt hat — und dass Essen und Trinken endlich Spaß machen soll, frei von kalten Konventionen. Auch die Werbung für Kücheneinrichtungen, die Bebilderung von Kochbüchern oder das gutgelaunte Mampfen auf Social Media zeigen das gemeinsame Essen fast immer als zwanglos, spontan, turbulent. Ist nicht längst die Atmosphäre auf den Fotos im Ikea-Katalog die neue Norm? Genuss statt Form, so die Botschaft.
Vielleicht bräuchte es aber eine neue Etikette — eine, die nicht lehrt, wie man Olivenkerne aus Mund elegant dort wieder herausbekommt, sondern eine, die zeigt, was eigentlich eine angenehme Atmosphäre schafft — für alle am Tisch. Dazu gehört etwas, dem diese Ratgeber, die uns altmodisch erscheinen, fast immer ein Kapitel widmen: das Tischgespräch. Da heißt es dann auch, man solle beim Essen nicht über Tod und Krankheit sprechen — das leuchtet leicht ein. Aber auch Politik solle man meiden, und überhaupt alles Kontroverse. Man ist heute versucht, solche Tabus als Einschränkung anzusehen. Aber es gibt andere Länder, wo die harmlose, aber nicht unbedingt geistlose Plauderei, besser angesehen ist als hierzulande. Und wo sollte das Plaudern und Geplänkel seinen Platz finden, wenn nicht am Tisch?
In einem »Kulinarischen Knigge«, der jetzt ein Vierteljahrhundert alt ist, liest man, es sollten »Themen gewählt werden, an denen sich alle beteiligen können und die keinen Anlass zu Grundsatzdiskussionen bieten«, außerdem solle jeder »zu Wort kommen, ins Gespräch einbezogen werden«, wobei der Gastgeber darauf zu achten habe. Wer einmal aufmerksam ein Tischgespräch verfolgt, wird feststellen, um wieviel heiterer es meist sein könnte. Es erscheint paradox: Die Höflichkeitsregeln der alten Benimmbücher — Aufmerksamkeit für jeden am Tisch aufzubringen, einzubinden, sich zu erkundigen, zu fragen statt nur zu reden — garantieren oft mehr Gemeinschaft am Tisch als die moderne Ungezwungenheit.