»Ich benutze mich als Material«
Vielleicht sei sie einfach ihrer Zeit voraus, sagt der Bestatter zu Helke Sander. Er spricht weniger zur Regisseurin, die als Ikone der Frauenbewegung und des neuen deutschen Films bekannt ist. Vielmehr meint er einfach die außergewöhnliche Kundin, Jahrgang 1937, die in den Ausstellungsräumen des Bestattungsunternehmens unterschiedlichste Erdmöbel begutachtet und einen unorthodoxen Wunsch äußert: Sie möchte nicht in einem Sarg, sondern in einem Sack beerdigt werden. Ob der Bestatter das möglich machen könne? Der windet sich, aber Sander lässt ihn nicht mehr vom Haken in dieser Szene aus Claudia Richarz’ Dokumentarfilm »Helke Sander: Aufräumen«.
Initiativ werden, Dinge anstoßen und Reaktionen provozieren, das zeichnet Sanders eigenes filmisches Werk aus. 1968 bei einer Podiumsdiskussion des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Berlin rief sie ins Plenum: »Agieren und agitieren!« Sander hält sich noch immer an diese Prämisse, während sie gleichzeitig beginnt, auf ihr Leben zurückzublicken — und aufzuräumen. Es war kein dramaturgischer Einfall der Regisseurin Claudia Richarz, ihre Kollegin, die sie auch als ein Vorbild betrachtet, bei diesem Prozess zu begleiten: »Ich habe sie einfach in diesem Moment ihres Lebens abgepasst«, erklärt Richarz zur Entstehung des Porträts. »Mir war aufgefallen, dass Frau Sander gerade dabei war, ihre Wohnung aufzuräumen, und so konnten wir filmen, wie sie alte Filme und Fotos sichtet, oder auch anhand von Kleidungsstücken ihr bewegtes Leben Revue passieren lässt.« Dazu montiert Richarz Ausschnitte aus Sanders Dokumentar- und Spielfilmen, aus Talkshowauftritten und Begegnungen.
Was war prägend für die Frau, die den feministischen Film in der Bundesrepublik prägte? Helke Sander erlebte 1945 das Bombardement von Dresden, sah die Leichen auf den Elbwiesen, war Augenzeugin von Vergewaltigungen durch russische Soldaten. Das gehörte zu ihrem Alltag: »Als Kinder haben wir Vergewaltigen gespielt«, erinnert sich Sander, und diese Ungeheuerlichkeit erzählt sie mit jenem Tonfall, den sie auch als Erzählerin in ihren Filmen anschlägt: ohne eine wahrnehmbare Regung oder emotionale Ausschläge. Die Dresdner Erfahrungen sind in »BeFreier und Befreite« (1992) eingegangen. In »Die Deutschen und ihre Männer — Bericht aus Bonn« (1989) befragt sie Männer aller Generationen, wie sie sich dazu verhalten, einem millionenfach vergewaltigenden Geschlecht anzugehören. Dass sie selbst Opfer einer Vergewaltigung wurde — auch das verrät sie Claudia Richarz vor laufender Kamera eher beiläufig.
Die Beschäftigung mit Helke Sanders Leben und Werk war für Claudia Richarz Folge einer Wiederbegegnung. Denn Richarz, Jahrgang 1955, war Studentin bei Sander an der Hochschule für Bildende Künste. »Ich hatte zuvor, wie viele Filmemacherinnen meiner Generation, ihre Zeitschrift Frauen und Film gelesen. Das hat mich sehr stark beeinflusst, und ich wollte dann auch unbedingt bei ihr studieren«, erinnert sich Richarz. »Wir haben uns danach aber aus den Augen verloren und erst vor ein paar Jahren auf einer Veranstaltung im Filmforum in Köln wiedergetroffen. Am nächsten Morgen bin ich aufgewacht und dachte: ›Man müsste doch eigentlich einen Film über Helke Sander machen.‹« Die Protagonistin habe nicht groß überzeugt werden müssen.
Ich gehe seit 50 Jahren der Frage nach, warum Frauen rechtelos wurden
Helke Sander
Helke Sander wurde jung schwanger und von ihren Eltern vor die Tür gesetzt. Bei ihren Schwiegereltern in Finnland fand sie für einige Jahre eine neue Heimat und auch ein anderes Männerbild vor: Ihr Schwiegervater, ein Politiker, schälte Kartoffeln und bügelte seine Hemden selbst. Undenkbar im restaurativen Nachkriegsdeutschland. »Ich gehe seit 50 Jahren der Frage nach, warum Frauen rechtelos wurden«, beschreibt Sander ihre Motivation. Sich als alleinerziehende Mutter durchzuschlagen in einer Gesellschaft, die Alleinerziehenden in der Arbeitswelt oder auf dem Wohnungsmarkt ständig Platzverweise erteilt, ist eines der Themen, denen sie sich in ihrem Werk eingehend gewidmet hat. Die politische Aufbruchsstimmung der Studentenbewegung nutzte sie für ihre Anliegen: 1968 war sie Mitgründerin des »Aktionsrats zur Befreiung der Frauen« und initiierte auch die Kinderladenbewegung. Außerdem setzte Sander historische Marken in der Filmlandschaft, organisierte das erste internationale Frauenfilmseminar, das 1973 in Berlin stattfand, ein Jahr später gründete sie mit Frauen und Film die erste feministische Filmzeitschrift in Europa.
Von der Nouvelle Vague beeinflusst — »stilistisch, nicht von deren Frauenbild!« — beschäftigen sich ihre wichtigsten Filme mit der Unterdrückung von Frauen und auch mit der Frage, welchen Anteil Frauen an ihrer Unterdrückung haben könnten. In »Eine Prämie für Irene« (1971) zeigt sie in Schwarzweiß den wenig erfüllenden Alltag einer alleinerziehenden Fabrikarbeiterin, in ihrem Spielfilm »Die allseitig reduzierte Persönlichkeit — Redupers« (1978) spielt sie eine freiberufliche Fotografin, die als alleinerziehende Mutter kaum über die Runden kommt und ein Leben zu führen gezwungen ist, das Sander selbst nur allzu gut kennt: »Ich benutze mich als Material«, räumt sie in Richarz’ Film ein. Und fügt hinzu: »Ich habe ein distanziertes Verhältnis zu mir.« Ein Strandspaziergang mit ihrem Sohn zeigt, was dafür auf der Strecke blieb. Sie sei nie die Mutter gewesen, nach der er sich gesehnt habe, hält ihr der Sohn vor. »Du warst immer schick und cool, aber ein emotionales Feuerwerk warst du nicht.« Die Folgen dieser Prägung für ihr einziges Kind: Verkorkste Beziehungen. »Wir sind keine guten Mütter geworden«. Dieser Satz fällt in »Aufräumen« tatsächlich aus —Sanders’ Mund.
Der Film beleuchtet weitere generationelle Verwerfungen. Einen Vortrag zu 50 Jahren Frauenbewegung etwa nutzte Sander 2018 zur Abrechnung mit dem zeitgenössischen Gender-Feminismus. Dieser habe außer einem Sternchen nichts zustande gebracht und die Frauenbewegung entpolitisiert. Das wollten einige Zuhörerinnen im Saal so nicht stehen lassen, kaperten Bühne und Mikros und wehrten sich gegen Sanders Verächtlichmachung. Sander, die jüngst zu den Erstunterzeichner*innen des umstrittenen »Manifest für Frieden« von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer gehörte, lächelte diese Attacke weg. Ein Lächeln als Material für zukünftige Debatten.
D 2023, R: Claudia Richarz, 82 Min., Start: 7.3.