Nur noch Auge und Ohr sein
Als sie kamen, trugen sie Schwarz, erzählt Nadia Murad, Friedensnobelpreisträgerin und Überlebende des vom Islamischen Staat verübten Genozids an den Jesid:innen. Sie kamen und töteten Männer und Alte, verschleppten Kinder und junge Frauen. Es waren Frauen, die ihren Namen tragen, schreibt die Ich-Erzählerin Ronya, oder die Namen ihrer Schwester und Cousinen. Nach dem Einmarsch der IS-Kämpfer in das jesidische Siedlungsgebiet Shingal im Nordirak am 3. August 2014 ging für die meisten Menschen das Leben einfach weiter. Für die Jesid:innen aber ist die Welt seither eine andere. Bis heute ringen sie nach einer Sprache für das Unaussprechliche. »Ferman 74« ist der selbstgewählte Begriff für den systematischen Völkermord am jesidischen Volk durch den IS. »Vierundsiebzig« ist auch der Titel des neuen Romans der Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann.
Dass Verfasserin und Ich-Erzählerin des Romans den gleichen Namen tragen, ist natürlich kein Zufall. Denn die Geschichte der Verfolgung der jesidischen Glaubensgemeinschaft im Nahen Osten ist auch die Familiengeschichte der Autorin, die stellvertretend für das Schicksal vieler jesidischer Menschen steht. Als staatenloser Kurde in Syrien aufgewachsen, flieht Othmanns Vater 1980 über die Türkei nach Deutschland. Auf der Flucht wird er vom türkischen Geheimdienst inhaftiert und gefoltert, so erzählt Othmann seine Geschichte im Roman. Das Vermengen von Wirklichkeit und Fiktion ist für den Text der 1993 als Tochter des kurdisch-jesidischen Vaters und einer deutschen Mutter in München geborenen Autorin programmatisch. Unter dem Schutzmantel der Fiktion erzählt sie von einer gemeinsamen Reise mit ihrem Vater zu den Orten der Verbrechen, auf der ihr die Menschen von dem Leid berichten, das sie durch den Islamischen Staat erfahren haben.
Othmanns Text ist ein nachwirkendes Zeugnis der Zeitgeschichte, nicht nur der Verbrechen am jesidischen Volk, sondern auch der Geschichte dieser in westlichen Ländern noch immer kaum bekannten ethnisch-religiösen Minderheit. Anhand von persönlichen Begegnungen mit den Menschen vor Ort oder alten Reiseberichten aus der Bibliothek in Deutschland, zeichnet die Erzählerin nach, wie Jesid:innen und Muslim:innen einst friedlich nebeneinander lebten, aber das jesidische Volk über die Jahrhunderte langsam aus ihren türkischen, syrischen und irakischen Siedlungsgebieten in die Diaspora gedrängt wurde. Weil ihre Religion auf keiner heiligen Schrift beruht, schreibt Othmann, werden die Jesid:innen seither als Ungläubige verfolgt und immer wieder gewaltsam zur Konversion zum Islam gezwungen.
Bereits ihr Urgroßvater, berichten Verwandte der Erzählerin auf ihrer Reise, habe sich geweigert, dem Islam beizutreten, und zahlte dafür mit seinem Leben. Sie erzählt, wie auch ihr Vater sich wiederholt weigerte, Arabisch zu sprechen, weil man ihm die Sprache als Kind einprügelt habe. Sie schreibt, dass sie über das Gesehene und Gehörte schreiben will, dass es aber auch im Jahr 2018, dem Jahr ihrer Reise, noch zu gefährlich sei, auf den Grenzfahrten durch die Siedlungsgebiete der Jesid:innen von ihrem Buchprojekt zu erzählen. Erzählen aber wollen die Überlebenden Ronya ihre Geschichten. Und so begegnet sie ihnen zwischen Häuserruinen und jesidischen Flüchtlingscamps. Dabei erfährt sie auch, was es für die Glaubensgemeinschaft bedeutet, in einem Kastensystem aufzuwachsen, und für sie selbst als Frau zwischen den verschiedenen Kulturen.
Othmanns Stimme ist die einer bisher kaum gehörten Diaspora
Schon in ihrem Romandebüt »Die Sommer« hat Othmann von der kulturellen Zerrissenheit einer jungen Frau erzählt, die zwischen einem Münchener Vorort und dem kurdisch-jesidischen Heimatdorf ihres Vaters heranwächst. Doch während sie sich hier dem Thema noch aus der fiktionalen Perspektive ihrer Protagonistin Leyla annähert, lässt sie in »Vierundsiebzig« die Grenzen zwischen Literatur und Wirklichkeit verschwimmen. Am stärksten ist Othmanns Text daher gerade dort, wo schreibendes und erzählendes Ich zugleich die Möglichkeit von Zeugenschaft durch die Literatur hinterfragen. Sie wolle sich, heißt es an einer Stelle, aus dem Text streichen und nur noch Auge und Ohr sein. Aber wo den Menschen ihre Sprache versagt, sollte man nicht müde werden, ihre Namen zu nennen.
Maqbule ist eine junge Frau aus Shariya. Sie erzählt, wie der IS 2014 Vater und Onkel vor ihren Augen tötete, die Brüder verschleppte und alle Frauen des Dorfes gefangen nahm. Fünf Jahre sei sie in Gefangenschaft der IS gewesen. Khidir Hassan Ahmed ist ein junger Mann aus Koço. Er war siebzehn Jahre alt, als die IS-Kämpfer in sein Dorf kamen. Sein Cousin wurde vor ihm erschossen, er selbst konnte mit einer Schusswunde fliehen. Was mit seinen Eltern, den vier Brüdern und sechs Schwestern passiert sei, wisse er nicht. Xat aus dem Shingal war vor dem Angriff des IS Sängerin. Nach dem Erlebten, sagt sie, wolle sie lieber anstelle eines Instrumentes eine Waffe in der Hand halten. Solche Geschichten hört die Erzählerin in Othmanns Roman viele. Auf jeder Straße, in jedem Haus, während jeder Autofahrt durch die weiten Landschaften der jesidischen Siedlungsgebiete wartet ein Schicksal, das erzählt werden will — das erzählt werden muss.
Als Journalistin berichtet die Ich-Erzählerin Ronya aber auch aus Deutschland, wie deutschen IS-Anhänger:innen hierzulande der Prozess gemacht und am 19. Januar 2023 der Genozid an den Jesid:innen im Bundestag endlich als solcher anerkannt wird. Und auch die Autorin Ronya Othmann selbst wird in ihrer Tätigkeit als Journalistin nicht müde, vom Schicksal der jesidischen Gemeinschft zu erzählen. »Der Genozid 2014«, schreibt sie in einem taz-Kommentar zum achten Jahrestag der Verbrechen an den Jesid:innen, »war weder Schicksal noch ein Naturereignis, er hätte verhindert werden können und müssen. Ebenso wie die desolate Situation der Jesid:innen heute. Doch es fehlt der politische Wille.«
Ronya Othmanns Stimme ist die einer bisher kaum gehörten Diaspora, ihr Roman »Vierundsiebzig« ist das literarische Zeugnis einer unvorstellbaren Realität der jesidischen Menschen nach dem fünfundsiebzigsten Pogrom an ihrer Gemeinschaft. Statt darüber zu streiten, wie man die Geschichten dieser Menschen erzählt, sollte man besser nicht vergessen, sie überhaupt zu erzählen. Denn, so heißt es zum Ende des Romans: »Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht: dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt.«