Musik mit großer Brennweite: Jards Macalé © Leo Aversa

Nichts wird klingen, wie es einst geklungen hat

Jards Macalé kommt nach Deutschland, um sein Debütalbum vorzustellen. 52 Jahre musste man darauf warten

Gibt es eine generelle Methode, nach der Sie arbeiten? »Nein.« Was hat sich denn über die Jahre geändert, und was denken Sie — was hat sich bei Ihnen verändert? »Nichts, ich bin immer der gleiche geblieben.«

Tja, wie passt das zusammen? Jards Macalé, von dem die obigen kurzen und entschiedenen Antworten stammen, ist der Falsche, die sich aufdrängende Frage nach dem Widerspruch zu beantworten. Man hat den Eindruck, der Brasilianer steckt immer noch mitten im Material, das einfach nicht alt werden will, mitten in seiner Musik, die er mal 1972, mal 1984 oder 2005 gespielt hat, und die für ihn immer gleichwertig ist. Er mag sich nicht mit Einordnungen aufhalten, mit Kategorisierungen. Im Interview spielt er mit großen Namen — zur Vorbereitung auf das Gespräch habe er Duke Ellington gehört; sein Gitarrenspiel verorte er zwischen Jimi Hendrix und Gilberto Gil; er habe immer noch die Radiomusik der frühen 60er Jahre im Ohr, den ­jungen Bossa Nova und den amerikanischen Rhythm’n’Blues. Er lacht herzlich. Sind diese Selbstverortungen freundlich-ironisch gemeint? (Klanglich hat seine ­Musik nichts mit Ellington und sein Gitarrenspiel rein gar nichts mit Hendrix zu tun.) Geht es ihm, um die Einordnung in eine Welt der ewig gültigen Koordinaten, in der Gil, Hendrix, Ellington und Bossa Nova für immer und unveränderlich Geltung als Fixpunkte besitzen? (Das scheint sehr plausibel.) Oder ist er so größenwahnsinnig, dass er sich tatsächlich mit den Genannten vergleicht oder sogar auf Augenhöhe sieht? (Macalé lacht immer noch.)

Jards Macalé — seine Geschichte ist schnell erzählt: Als Jards Anet da Silva 1943 in eine musikalische Familie aus Rio de Janeiro geboren, macht er Musik, seit er denken kann; seit 1966 als Profi und unter dem Alias Jards Macalé. Er begleitet Theatervorstellungen, spielt in Restaurants, gründet mit anderen Musikern eine Agentur, um Konzerte und Plattenaufnahmen selber zu organisieren. Er ist gefragt als Arrangeur, interessiert sich für Avantgarde-Lyrik, lässt sich von ihren freien, hermetischen Texten zu seinen Songs inspirieren.

Das passt perfekt zu einer musikalischen Aufbruchsstimmung, die sich mitten in der brasilianischen Militärdiktatur, die seit 1964 das Land mit autoritären Maßnahmen und politischer Repression überzieht, Freiräume erspielt: Tropicalismo. Heute ist dieser 1967 erstmals aktenkundig gewordene Stil Weltkulturerbe — eine bis dato unerhörte Musikmischung aus hartem Rock und weichem Bossa Nova, offen für die Klangexperimente der Neuen Musik, für Free Jazz, für zarten Folk à la Joni Mitchell. Damals: eine rebellische, ­widerborstige, paradoxerweise oft unendlich elegante Musik. Zu clever, um sofort von den Militärs verboten zu werden; zu aufreizend (und zu offen Bezug nehmend auf die Protestbewegung in Europa und den USA), um nicht doch den Gegenschlag zu provozieren.

Gilberto Gil und Caetano ­Veloso, zwei Heroen dieser Musik, müssen 1970 ins Exil und fliehen nach London. Jards Macalé — von der positivistischen Musikgeschichtsschreibung zur zweiten Welle der Tropicalismo-Bewegung gerechnet — folgt ihnen und ist 1971 musikalischer Direktor von Veloso. Beste Voraussetzung für eine eigene Weltkarriere, wenn da nicht diese Querköpfigkeit wäre.

Bereits 1972 geht Jards zurück nach Brasilien und nimmt, fernab eines größeren öffentlichen Interesses, sein Solo-Debüt auf, das gleich seinen eigenen Namen trägt: »Jards Macalé«. Das besagte Debüt-Album klingt indes nicht nach Gil, nicht nach Veloso, klingt nicht nach dem exzentrischen Tom Zé und den kühl-avantgardistischen Os Mutantes. Es klingt auch nicht nach seinem Entstehungsjahr »1972«.

Dieser Satz ist das Stichwort, um aus der Chronologie auszu­brechen und einen Sprung zu ­machen, in ein gediegenes Kölner Büro im eisigen Kölner Januar 2024, wo der Veranstalter und Produzent Jan Lankisch dem ­Autor dieser Zeilen eine Testpressung in die Hand drückt: In den nächsten Wochen wird Veranstalter und Kreativkopf Jan Lankisch auf seinem Label »Week-End Records« Jards’ Debüt wiederveröffentlichen. Jedem, dem ich das ­Album in den folgenden Tagen vorgespielt habe (zunächst auch ahnungslos, was mich da erwarten wird), nennt ein anderes ­Entstehungsjahr, aber niemals 1972: 1998, 2015, 2022.

In der Tat klingt dieses Album unbedingt nach Gegenwart, vielleicht noch nach dem Postrock-Aufbruch Ende der 1990er. Denn: Macalés so vielschichtige, wie heterogene, stets bezaubernde Musik trägt nichts Schmückendes, nichts Ornamentales, kein »entgrenzendes« Gitarrensolo, kein pseudo-transzendentales Hippie-Gebimmel, kein angestrengter Avantgardismus. Die Musik klingt kompakt — Schlagzeug, Bass, unverzerrte ­Gitarre, wobei die Gitarrenspur häufig gedoppelt wird. Mehr nicht. Die weiche, laszive, volle Stimme Jards’ dominiert, ist aber immer in das instrumentale Geschehen eingebunden, eine wunderbare Balance. Vor allem ist sie trocken und crispy produziert, also: transparent. So konnte der Bass weit nach vorne gemischt werden, ohne dass die filigrane Gitarrenarbeit darunter zu leiden hätte. Die Musik ist nicht minimalistisch, sondern verspielt, die Songs wechseln die Tempi, zitieren amerikanischen Rock, haben scheinbar keinen Anfang, enden kurios. Wäre es US-amerikanische Musik, man zitierte als Referenzen unweigerlich den 1969er Frank Zappa oder Captain Beefheart. Aber das sind nur Krücken, im Kern ist die Musik zu ­eigenständig, zu idiosynkratisch. Aber immer gut durchhörbar. ­»Hören mit Schmerzen«? Für diese Avantgarde gilt das nicht.

»Wir habe das Album live gespielt, natürlich«, sagt Jards, »die Musik war beliebt, wir haben in den Aulen von Universitäten gespielt, in Restaurants, auf Stadtteilfesten.« Warum sollte sie nicht beliebt gewesen sein, fragt er zurück. Naja, weil sie so unberechenbar klingt, so heterogen. Nein, nein, beeilt sich Jards, das sei nun mal brasilianische Musikkultur: eine Mischung aus unterschiedlichsten Einflüssen, die offensiv mit dem Collagen-Charakter, dem Pastiche umgeht. Nicht in der ­Musik, sondern in dem Umgang mit ihr liege die Originalität.

Hieß es eben nicht, dass Jards’ Geschichte schnell erzählt wäre? Ist sie natürlich nicht. Deshalb nur ein paar Stichpunkte: Es folgen 1974 und 1977 noch zwei weitere Alben, die ganz anders klingen — weil sie in großen Besetzungen eingespielt sind und das Spiel mit Text und Gesang ausgeprägter ist. Und dann zehn Jahre: Nichts!

Eine ziemlich sensationelle Session mit dem Meisterpercussionisten Nana Vasconcelos von 1984 wird erst in den 90ern ver­öffentlicht. Jards steckt in einer persönlichen Krise. Auch später folgen lange Jahre, in denen er nichts veröffentlicht, er verschwindet geradezu zwischen diesen ­Produktionen. Erst seit etwa zehn Jahren kommt er zu regelmäßigen Album-Produktionen. Tourneen außerhalb Brasiliens finden nicht statt. Jetzt ist er das erste Mal in Deutschland, das ­erste Mal in Köln — um dann ein Album vor­zustellen, dass er 1972 eingespielt hat und dessen eigenwillige Sound- und Klangmagie er seither nicht wiederholt hat. Und auch nicht mehr wiederholen könnte, denn sein damals engster musikalischer Partner, Lanny ­Gordin, ist vor einigen Wochen ­gestorben.

»Ja«, sagt Jards, »wir spielen wirklich das Album, aber wir ­spielen auch neue Stücke und ich spiele es mit jungen Musikern.« Soll heißen: Nichts wird klingen, wie es einst geklungen hat. Es ist kein Widerspruch, es abzulehnen, nach einer »generellen Methode« zu arbeiten, und gleichzeitig ­darauf zu bestehen, sich niemals geändert zu haben. 

Tonträger: Jards Macalé, »s/t — 50th Anniversary. Limited Edition«. (Week-End Records / Kompakt)