Wer ist der Nächste? Ein Gleichnis

Materialien zur Meinungsbildung

Es ist kaum zu begreifen, weshalb die Gepflogenheiten beim Kauf von Waren und Dienstleistungen so unterschiedlich sind: Die Kellnerin bekommt Trinkgeld, der ­Paketbote nicht; bei Kreditinsti­tuten kann man einen Beratungstermin vereinbaren, im Elektrofachhandel nicht; in der Arztpraxis wird man aufgerufen, beim Bäcker soll die Kundschaft selbst entschei­den, wer dran ist.

»Wer ist der nächste?«, ruft die Frau in Diensten der Bäckerei, ohne vom Beschmieren einer Brötchenhälfte mit Remoulade aufzusehen. Ihre Frage, mehr ein Befehl, schallt über die Theke, vor der jetzt so viele Menschen stehen. Alle wollen Mandelhörnchen, Schmandschnitten, Remouladenbrötchen, und zwar schleunigst. Es geht um Sekunden: der Bus, die Stechuhr, der Schulgong. Jeder will, jeder muss »der Nächste« sein. Ich finde aber, wer hinter der Verkaufstheke steht, hat die Aufgabe, nach bestem Wissen selbst zu entscheiden, wer »der Nächste« und alsbald glücklicher Eigen­tümer eines »Powersnacks« oder Mandelhörnchens ist. Dafür ist es natürlich unabdingbar, aufmerksam zu sein. Wem das zu aufwändig erscheint, der möge bitte Umlaufgitter im Laden aufstellen. Ich bin zu streng? Lesen Sie mal weiter.

Denn nun schallt es zur Antwort auf die Frage, wer der Nächste sei, aus vielen Kehlen gleichzeitig »Ich! Ich! Ich!« Das trägt nicht zur Entscheidungsfindung bei. Also wählt die Frau hinter der Theke, nun vom beschmierten Brötchen aufschauend, den Lautesten aus und kürt ihn zum »Nächsten«, kraft der Worte »Und? Was denn jetzt für Sie?«. Der Rest kritisiert Intransparenz und Willkür der Entscheidung wortlos, holt tief Luft und bereitet sich darauf vor, bei der nächsten Frage als erster zu antworten — lauter als zuvor, sonst wird das wieder nichts.

Man mag einwenden, dieses ungehörige Betragen sei nicht die Regel. Wie oft heißt es »Ihr Magen knurrt schon sehr vernehmlich, und ich beabsichtige um die Zu­bereitung von zwei Dutzend Käsebrötchen mit schön dick Remoulade für das Arbeitstreffen meiner Interessengemeinschaft gegen die Auswüchse des Wildpinkelns zu bitten, also gehen Sie doch bitte vor.« Ja, das gibt es: gute Menschen. Wie aber entscheidet sich, welche Stimmung herrscht vor Bäckereitheken und überhaupt dort, wo Menschen zusammenkommen?

Man sagt, die Staus auf den Straßen entstünden, weil Autofahrer den Verkehr nicht als gemein­same Aufgabe begriffen, sondern nach ihrem persönlichen Vorteil strebten: mit Drängeln, riskanten Überholmanövern, überhöhter Geschwindigkeit. Es geht um Sekunden. Am Ende aber dauert es für alle länger. Es reicht eine bloß geringe Zahl eigennütziger Menschen, um das gesamte System einstürzen zulassen, zumal die anderen das scheinbar individuell vorteilhafte Verhalten übernehmen. Ein Irrer kann eine Vielzahl Vernünftiger zu Irren machen.

Ein Ameisenhaufen ist weitaus komplexer als eine Autobahn und doch gibt es keine Staus. Keine Ameise verhält sich individuell. Manche sagen, der Ameisenhaufen sei das Lebewesen, nicht die einzelne Ameise. Die Kundschaft der Bäckereifiliale aber ist kein ­Lebewesen, und sie begreift die Versorgung mit Schmandschnitten und »Powersnacks« auch nicht als gemeinschaftlichen Auftrag. Dem Chaos Einhalt gebieten, kann nur jemand anderes: die nette Kollegin der barschen Thekenkraft, die samstags da ist. Sie nimmt einfach jemanden dran — und nicht immer ist das zeitliche Eintreffen der Kundschaft dabei leitend. Das ist nicht gerecht. Aber es kommt jeder schneller an sein Mandelhörnchen. Aber wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, kann es einem schaudern.