Terzvermeidung
Wege gebe es, eine Liebschaft zu beenden, heißt es in einem alten Gassenhauer. Fünfzig! Das ist viel. Eigentlich gibt es doch nur zwei Wege: mit Stil oder per SMS. Dass das für den anderen keinen wesentlichen Unterschied macht, liegt sozusagen in der Natur der Sache, und wir alle sind es gewohnt, Geschichten vom Ende her zu betrachten, auch Liebesgeschichten. Ein dissonanter Schlussakkord überzieht dann die zuvor so beschwingte Symphonie nachträglich mit schweren Schatten. Wir sind schlechte Archivare der Anfänge.
Nun ist über die Liebe und wie sie verklingt längst alles gesagt worden und sehr vieles auch, was banal und blöde ist. Die Worte aber fehlen uns, wenn es um ihre weniger launische Cousine geht: die Freundschaft. Auch Freundschaften verklingen, aber mit weniger Tamtam. Freundschaften enden selten mit einem pompösen Schlussakkord, sie werden eher ausgeblendet, so wie ein Gassenhauer im Radio: Fade out. Es ist etwas lieblos oder besser: un-freundlich, meine ich.
Wie aber findet man den Schlussakkord für eine Freundschaft? Einen, der nicht dissonant klingt, sondern eher neutral, ohne Terz. Heißt es nicht auch: »Machma kein’ Terz«? Vor diese Aufgabe sah ich mich neulich gestellt.
Ich weiß nicht wie lange ich K. kenne. Wir treffen uns ab und an, wenn wir nichts besseres vorhaben, trinken ein Bier oder zwei und reden etwas daher. Meist höre ich zu, was K. alles zu erzählen hat von sich. Es sind lustige Geschichten, immer mit K. in der Hauptrolle. Irgendwann merkte ich, dass ich mir das nicht mehr so gern anhören mag. Ich kam mir grausam vor, dann aber kam mir K. grausam vor. Ich suchte nach dem Schlussakkord und fand ihn nicht. Ich entschloss mich für das Fade-out, ich stehle mich feige davon, aber es wird noch Jahre dauern.
Heute ist es üblich, Freunde zu sammeln, so wie man früher Briefmarken sammelte. Viele sollten es sein, und ein paar besonders schwierig aufzutreibende waren der Schmuck eines jeden Albums, das man gern präsentierte. Mir scheint, was das Album für die Briefmarken war, ist heute das »Netzwerk« für die Freundschaften. Bloß behält man in einem Netzwerk keinen Überblick, und um Freundschaften muss man sich doch kümmern, sie pflegen, wie es heißt. Hat man da heute nicht zu viele Pflegefälle?
Wie schnell wächst einem doch alles über den Kopf, und es droht, dass wir das Private mit der gleichen seelenlosen Mechanik wie Geschäftliches verrichten. War es da nicht besser, Tobse Bongartz’ Geburtstag zu vergessen als ihm eine lapidare Textnachricht zu senden, um auf der To-do-Liste ein Häkchen setzen zu können? Warum ist er denn so beleidigt? Und was kann ich dafür, dass er meine telepathisch gesandten Glückwünsche nicht empfängt?
Darüber sprach ich mit Gesine Stabroth. »Du bist ja vielleicht ’ne Marke!«, rief Gesine Stabroth. »Hä? Wie kann man denn so was vergessen? Haste das nicht im Handy?!« Wir können offen reden, wir sind gute Freunde. Gute Freunde, so heißt es, sagen einem auch mal unangenehme Wahrheiten. Gesine Stabroth sagt mir aber immer unangenehme Wahrheiten oder eben das, was sie für eine Wahrheit hält. Wenn Unangenehme-Wahrheiten-Sagen ein Maßstab für Freundschaft ist, dann übertreibt es Gesine Stabroth etwas, finde ich. Wenn ich unangenehme Wahrheiten hören will, schalte ich die Nachrichten im Radio ein. Da sagt die Nachrichtensprecherin zumindest nicht, Tobse Bongartz sei sehr zu bedauern, solch »einen verschnarchten Volltrottel, der nix auf die Kette kriegt« zum Freund zu haben. Ach, mir scheint, in Tobse Bongartz’ Netzwerk-Album bin ich eine Rarität: eine Marke, ohne Wert zwar, aber kurios genug, dass man sie nicht gleich aussortiert.