Allein im Wald: Ryo Nishikawa © NEOPA Fictive

Evil Does Not Exist

Ryūsuke Hamaguchi lässt aus Musik einen faszinierend schillernden Spielfilm entstehen

Dass zuerst ein Soundtrack komponiert wird und erst dann begleitende Filmbilder entstehen, mag bei experimentellen Kurzfilmen vorkommen (von Musikvideos einmal abgesehen). Doch es dürfte einzigartig sein, dass ein Filmemacher wie Ryūsuke Hamaguchi, dessen Filme neben einem Auslands-Oscar auch Preise in Cannes, Berlin und Locarno gewonnen haben, sich darauf einlässt. Genau das war bei seiner zweiten Zusam­menarbeit mit Eiko Ishibashi nach »Drive My Car« der Fall: Die japanische Komponistin bat ihren Landsmann, zu einem Musikstück Bildmaterial zu drehen, daraus entstand der abendfüllende Film »Gift«, den sie unter anderem vergangenen Herbst beim »Film Festival Cologne« live begleitete.

»Gift« gab dem Regisseur und Drehbuchautor erst den Anstoß, seine Bilder aus dem malerischen Umland Tokios um eine dialogbasierte zweite Ebene zu ergänzen, deren Profanität einen reizvollen Kontrast erzeugt: Es geht um Fehlanreize bei Covid-Hilfsgeldern, die einige — Zitat — »Schleimscheißer« des hauptstädtischen Kulturbetriebs dazu veranlassen, einen luxuriösen Campingplatz aus dem Boden stampfen zu wollen. Die Faszinationskraft von »Evil Does Not Exist« verdankt sich den in Teilen erhabenen, in Teilen konkreten Naturdarstellungen, die in leichter Variation auch »Gift« prägen. Dabei steht ein alleinerziehender Witwer im Zentrum, der in ländlicher Abgeschiedenheit als Mann-für-alles arbeitet und regelmäßig vergisst, seine Tochter aus der Grundschule abzuholen.

Wenn dann das Mädchen allein durch den Wald streift, schwingt in Musik und Bildern leise Gefahr mit, wobei sich vom ersten Moment an die Frage stellt, welche Bedeutung etwa einer langen, himmelwärts gerichteten Fahrtaufnahme zukommt. Mitunter verblüfft Yoshio Kitagawas Kamera auch, indem sie kurz die Perspektive einiger Pflänzchen wilden Wasabis oder eines toten Rehkitzes einnimmt. Wenn bei einer ungeschnittenen Fahrtaufnahme vorübergehend eine Böschung den Protagonisten verdeckt, weckt der subtile Überraschungseffekt den Verdacht, dass die anschließende zauberhafte Veränderung im Bildinhalt gar nicht real sei. Vielleicht sind solche schillernden Bilder ähnlich aufzufassen wie ein Balladentext, bei dem im besten Fall auch stets poetische Mehrdeutigkeit anklingt und jeder Vers der Melodie und dem Rhythmus der Musik folgt.

(Aku wa sonzai shinai) J 2023, R: Ryūsuke Hamaguchi, D: Hitoshi Omika, Ryo Nishikawa, Ayaka ­Shibutani, 106 Min.