Das Tropicalia-­Phänomen

Chrizzi Heinen entdeckt die Utopie im Einkaufszentrum

Die Literatur kann noch ohne Kitsch zum utopischen Ort werden. Am Ende von Chrizzi Heinens »Tropicalia Passagen« regiert sie ein heruntergekommenes Einkaufszentrum, über dessen berüchtigten einstigen After-Work-Club, der »Tropicalia Bar«, ein Journalist in diesem Roman nicht schreiben wollte, denn »da wird Kitsch zu einer wahren Erfahrung«. Aber über Chrizzi Heinens personal erzählten Drei-Figuren-Roman, im kleinen Ventil-Verlag erschienen, möchte man schreiben und sprechen, und wenn man einmal begonnen hat zu lesen, nicht mehr aufhören.

Mila hat ihren Dienst nach Vorschrift als DJ im Tropicalia quittiert und näht im elften Stock eines Wohnturms, endlich künstlerisch autonom, für zufällig von ihr ausgewählte Empfänger:innen Stoffpuppen, die in diesem Roman zum Leben erweckt werden. Paul fertigte einst Einlegesohlen in seinem Geschäft in der CityPassage, doch seit die Orthopädie-Praxis und mit ihr viele andere aus dem maroden Einkaufszentrum verschwanden, betreibt er in seinem Laden bloß noch ein Zwischenlager für Pakete. Wagner ist Agent für posthume Literatur verstorbener Autor:innen in einer Agentur, die »an Ampelfarben ­angelehnte Risikoklassen« für die von ihr auf dem Buchmarkt vertretenen Bücher entwickelt, und einer der Stoffpuppen-Empfänger. »Man lebte immer in Abhängigkeit von anderen Menschen«, denkt Paul einmal poetologisch, »doch mit echter Nähe hatte das nichts zu tun.«

Von der Einübung dieser Nähe handeln »Tropicalia Passagen« und Chrizzi Heinens Sprache, anrührend, aber nie sentimental. Hinreißend paaren sich in dieser Prosa Lässigkeit, Jargon und Präzision mit einer sprachlichen Zartheit und einer Poesie der unbelebten Welt. Die »Sequenzer glühten noch« in diesem Roman, es gibt »Noisesweeps« und »intellektuelles Property«, mit dem sich die promovierte Musikwissenschaftlerin Chrizzi Heinen auskennt, und gleichzeitig erfährt der Erzählraum eine ungeheure Tiefe und Haptik, wenn etwa Mila Murmel, Reis und Walnüsse, Pailletten, Löffelstiel und Nähgarn zu Hilfe nimmt, um ihre Stoffpuppen zu nähen. Erzählen und lesen wie noch einmal Spielen im Kaufmannsladen. Zum Schluss begleiten die Püppchen dann auch das Kreuzen der Wege von Mila, Paul und Wagner in einem Einkaufszentrum, dem die Kunst neues Leben einhaucht.

Chrizzi Heinen: »Tropicalia Passagen«, Ventil Verlag, 224 Seiten, 22 Euro