Es war nicht alles schlecht früher: Klassisches DJ-Handwerk

Weniger Stil, mehr Optionen

Wie digitales Auflegen die DJ-Kultur shaped und die digitale Einfachheit mehr Risiken produziert, als viele dachten

Digitales DJing hat vor 20 Jahre die Auflegerei revolutioniert, so dachten wir. Die erste Phase, in der CDs zum Einsatz kamen, war noch ­sper­rig und hatte keinen Benefit für Club-DJs. Doch als Player — Konso­len kamen erst später auf — digitale Files zuließen, war die DJ-Szene psyched ob der unendlichen Möglichkeiten, die sich auftaten.

Denn die Verwendung von Files erlaubt es, nicht nur ganze Tracks zu spielen, sondern Ausschnitte und Loops in ein DJ-Set nach einem Baukastensystem einzubinden. Dazu kann digital die Geschwindigkeit stärker verändert werden, als bei Plattenspielern, es gibt zusätzliche Effekte an den Playern und Mixern, wie sie früher nicht verfügbar waren.

Im Vergleich dazu musste ein old school Vinyl-DJ mit Plattenspielern auskommen mit lediglich der Option, die Höhen, Mitten und Bässe am Mischpult rein- und raus­drehen zu können. Nur: Armut macht erfinderisch! Und so ist es typisch für Vinyl-DJs, sich mikro­skopisch genau mit den wenigen Optionen auseinanderzusetzen, um  daraus einen sehr individuellen Mix-Stil zu entwickeln.

Die Möglichkeiten im Digitalen sind viel umfangreicher, darum darf die Messlatte der Erwartung an digitale DJs entsprechend höher gelegt werden. So dachten wir. But no. Digitale DJs fallen selten durch Einzigartigkeit auf, sondern durch Low-Skills. Übergänge ­werden durch Cuepoints und flinkes Cutten auf Anfängerniveau vereinfacht. Tracks werden in ­wenigen Takten aneinenander ­gereiht — keine große DJ-Kunst, die kaum musikalisches Verständnis benötigt. Wenn Übergänge kurz sind, können sich keine ­neuen Klangräume öffnen, was ­einem Mix ein magisches Moment nimmt. Um es kurz zu machen: Digitale DJ reiten auf Pandoras Box, nur kommen die wenigsten auf die Idee, sie auch zu öffnen.

Zu den guten Seiten. Digitali­sierung und digitales DJing ­ermöglichen einen einfacheren Zugang zum Auflegen. Auflegen ist schneller erlernt, was schön ist, denn Lernerfolge motivieren und stärken das Selbstvertrauen. Außer­dem ist digital alles verfügbar, was es zur DJ-Werdung braucht: die Soft­ware zum einfachen Organisieren der Musik, die Musik an sich, Lerninhalte wie Tutorials, Hilfe und Tipps in Beiträgen und Foren, schließlich die vielen Plattformen, um als DJ sichtbar zu ­werden. Wer sich fürs Auflegen ­interessiert, ist durch die Digitalisierung nicht länger auf Anbindung an eine lokale Szene ange­wiesen, die es auch nicht immer in der gewünschten Weise gibt.

Nur wird durch diese Autonomie das DJ-Dasein von Begegnungen und Auseinandersetzungen entkoppelt: Kein wöchentlicher Gang in den Plattenladen, keine zusätzlichen Infos und Anekdoten zu den Einkäufen von der Plattenverkäuferin, kein Abhängen bei Buddys mit Plattenspielern und strapazierfähiger Nachbarschaft, kein Erwerb der Groove zum ­Studium der Plattenrezensionen. Tracks werden einzeln erworben, Releases regelrecht auseinandergerissen. Wer sich digital bewegt, dem entgeht unter Umständen die Kontextualisierung der gekauften Musik und die Kontextualisierung von sich selbst als DJ im Abgleich mit der Außenwelt (und nicht nur mit der Szene). Was sich in der analogen DJ-Kultur fast von alleine ergibt, müssen sich digitale DJs mühsam erschließen.

Problematisch sind auch die Vorgaben und Vorlagen, die sich online finden. Social Media und Online-Beiträge machen Erfolgsgeschichten sichtbar, nicht aber, wie mühsam ein Werdegang sein kann, oder wie unnatürlich schnell er glücken kann, wenn dieser von meinungsprägen­den Stimmen und Institutionen gefördert wird. Denn Zugänge zum DJ-Business liegen noch immer in den Händen der Gatekeeper: angesagter Förder­programme, Medien, ­Promotern, Venues und Booking­agenturen. Die raren Erfolgsgeschichten prägen das Bild und die Vorstellung, wie ein Werdegang stattzufinden hat.

Die Verwendung von Files erlaubt es, nicht nur ganze Tracks zu spielen, sondern Ausschnitte und Loops wie in einem Baukasten­system einzubinden 

Da ist von Anfang Zwanzigjährigen die Rede, die bereits in weltberühmten Clubs auflegen, von erfolgreichen Festival-DJs, die erst seit zwei oder drei Jahren Musik machen. Die Profile dieser Newcomer weisen zigtausend ­Follower auf. Die suggerierte Geschwindigkeit, in der sich Erfolg einstellen kann, untergräbt eine wichtige ­Eigenschaft von musikalischer Beschäftigung: die Muße, eine ­gewisse Langsamkeit. DJ oder ­Producerin zu sein, setzt eine intensive Auseinandersetzung mit Musik, Material und Technik voraus und die Entscheidung zu einer selbstgewählten Einsamkeit, um sich in den langwierigen Prozessen zu versenken. Zu erleben, wie einsam das Musik machen ist, ist neben Hörbildung und der musikalischen Entwicklung auch eine wichtige mentale Vorbereitung auf einen eventuellen professionellen Werdegang. Als touring ­artist ist es unabdingbar, in sich selbst ruhen zu kön­nen. Wer sich vom Dopaminrausch schneller erster Erfolge davonträgen lässt und darin eine Motivation sieht, professionell DJ werden zu wollen, ist schlecht beraten.

Dass in einer DJ-Kultur, die an Geschwindigkeit, öffentlichen Erfolg und konventionelle Leistungsparameter glaubt, über das Thema Mental Health nachgedacht wird, ist da eine Konsequenz. Dass über sie öffentlich ­gesprochen wird, ist richtig und ein Indiz, dass die Auseinandersetzung mit psychischer Gesundheit im DJ-Alltag ankommt. Häufig wird Einsamkeit genannt, die DJs auf Tour erleben — nicht verwunderlich —, auch Melancholie. ­Dabei ist Empfindsamkeit unter Menschen in subkulturellen Szenen häufig. Touring artists müssen für sich herausfinden, welche melancholischen Anteile sie von Natur aus mitbringen und welche Anteile sich Werdegang bedingt verschlechtern — oder auch ­verbessern. Nicht alle sind dafür geeignet.

Wenn die Erzählung von einsamen Soloartists auf Tour etabliert wird, ohne sich die Mühe einer Ausdifferenzierung zu machen, dann wundern wachsende Krankheitsausfälle genauso wenig, wie der Irrglaube, die Entscheidung für den Weg als DJ sei untrennbar an gesundheitliche Risiken gekoppelt. Das lädt die Verantwortung auf die DJs ab, anstelle alle Beteiligten in Management, Orga und Booking zu adressieren und mit in die Pflicht zu nehmen. Denn diese Erzählung suggeriert ein ­Dilemma, das kein Dilemma ist.

Wie die Digitalität die DJ-­Kultur formt, hat viele gute Seiten, aber auch ungesunde, die es nicht wert sind, unnötig romantisiert zu werden; die Probleme dahinter können gelöst werden.