Falsch rum auf der Rolltreppe
Mit der Zeit sammelt sich einiges an. Die Vergangenheit, unsere eigene und die der Welt, ist ein einziger Wust von Geschehnissen, Gedanken, Gegenständen; so gigantisch, dass uns das allermeiste längst aus dem Blick geraten und auf ewig vergessen ist. Was man aufbewahren will, steckt man in ein Museum, ein Archiv oder in den alten Schuhkarton, den ich neulich fand. Was war da alles drin! Briefe und Notizen, Souvenirs, Nippes. Vieles wirkte völlig fremd und wie zum ersten Mal erblickt, anderes ließ mich angenehm erschauern, so ungeahnt nah kam es mir. Ich wurde geradezu: nostalgisch.
Nostalgie ist etwas, das einen befällt und gegen das sich niemand wehren kann. Aber es ist auch etwas, das uns trotzdem peinlich ist wie ein Pups, der sich nicht unterdrücken lässt. Warum? Vielleicht, weil die Nostalgie eine Sehnsucht ist, die sich auf die Vergangenheit richtet, aber nur das sieht, was dort gut und schön erscheint. Wir blenden aus, was uns nicht passt, heißt es. Nun, das machen wir aber doch auch in der Gegenwart. Nichts ist so gemütlich, wie sein Weltbild bestätigt zu bekommen; notfalls hilft man etwas nach. Für die Nostalgie aber fehlt uns jegliches Verständnis. Und daher betont jeder Retro-Trend immer auch, sehr ironisch zu sein. Nur so scheinen wir ihn akzeptieren zu können, nur so scheinen wir davor gefeit zu sein, als etwas dümmlich zu erscheinen.
Die Nostalgie ist verpönt. Aber ein Begriff, der ihr ähnelt, macht immer wieder neue Karrieren: die Utopie. Auch sie ist dem Wortsinn nach unerreichbar, ein Hirngespinst, eine Fata Morgana unserer Wünsche am Horizont, hinter dem wir den Endpunkt der Zukunft wähnen. Eben das macht die Utopie modern. Sie hat die Zukunft zum Gegenstand und richtet sich nicht wie die Nostalgie auf die Vergangenheit.
Nun ist, um ein Bild zu bemühen, die Zukunft immer ein leeres, helles Zimmer, das man schön einrichten kann. Die Vergangenheit aber ist eine Rumpelkammer, vollgestopft mit unnötigen, lästigen, auch ärgerlichen Dingen, unter deren schierer Masse das Wertvolle und Bewahrenswerte verschüttet liegt; und wenn man nicht genau hinschaut, wird man es kaum erkennen, und wenn man es doch erkennt, dann will man diesen Vergangenheitsplunder trotzdem nicht haben. Denn, etwas verkürzt gesagt: Früher musste sich das Neue gegenüber dem Alten rechtfertigen, heute ist es umgekehrt. Bloß ist das Neue von heute ja immer schon das Alte von morgen. Es gab eine Zeit, da wurden das Auto, das Atomkraftwerk, das Fertiggericht als Beleg für den Fortschritt genommen, es ist nicht allzu lang her.
Immer gilt das Neue als Beleg für den Fortschritt und dafür, dass es weitergeht. Bloß ist damit noch nichts darüber gesagt, auf welches Ziel man zusteuert und ob wir dabei vielleicht doch in die Irre gehen. Es ist müßig, darüber nachzudenken. Einig sind wir uns aber darin, dass es weitergehen muss.
Wenn wir nun also dastehen auf dem Zeitstrahl wie auf einer Rolltreppe, die uns immer weiter in die Zukunft fährt, dann können wir nach vorn schauen oder zurückblicken. Aber wer statt nach vorn zu schauen sich umdreht, wer der Zukunft den Rücken zuwendet, gegen die Fahrtrichtung schaut, der muss uns sonderbar erscheinen. Es erscheint uns falsch, so auf der Rolltreppe zu stehen. Ähnlich ist es mit der Nostalgie. Der Begriff ist völlig verhunzt.
Ich habe dann die Krimskramskiste in den Mülleimer geworfen. Ich habe dann die Krimskramskiste wieder aus dem Mülleimer herausgeholt. Dass sie mich belügt, das weiß ich noch immer. Aber das tun Spielfilme und Romane doch auch, und niemand will sie auf den Müll werfen. Man muss vielmehr lernen, mit diesen Lügen umzugehen.