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Als Emile de Antonio 1963 »Point of Order« im Rahmen des ersten New York Film Festivals präsentierte, warnte die offizielle Ankündigung, man könne hierbei nicht von einem Film »im engeren Sinne« sprechen. Der Grund: De Antonio hatte keine Einstellung seines Debüts selber gedreht. »Point of Order« besteht lediglich aus einem Zusammenschnitt der TV-Aufzeichnungen der so genannten »Army-McCarthy hearings« von 1954, die zum Fall des berüchtigten Kommunistenjägers führten.
Sechs Jahrzehnte — und diverse Diskussionsrunden um Appropriation Art, Sampling und Ready-mades — später gehören rein auf Archivmaterial basierende Dokumentarfilme ganz selbstverständlich zum Repertoire von Filmfestivals weltweit. Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen gehen dieses Jahr aber noch einen Schritt weiter: Sie zeigen Filme, in denen sich die Regisseur*innen zwar nicht mehr direkt beim Werk anderer Menschen bedienen, stattdessen aber auf die »Kreativität« einer Software bauen, um Bilder zu generieren. Im MuVi-Wettbewerb, in dem das beste deutsche Musikvideo des Jahres ausgezeichnet wird, enstand die Hälfte der diesjährigen Auswahl mit Unterstützung oder sogar komplett mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz — die Spannweite liegt von ungefähr zwanzig Prozent der Bilder in Astrid Buschs »Manitulation« bis zu hundert Prozent etwa bei Marc Richters »Schleim des Nichtwissens«.
Das heißt allerdings nicht, dass die Kreativen nichts zu tun hatten — von Arbeitserleichterung konnte keine Rede sein. Alle Filme sind das Ergebnis langwieriger Experimente mit meist mehreren verschiedenen K.I.-Anwendungen und anderen Programmen wie Photoshop. Matthew Biederman etwa, der das Video zu Pierce Warneckes Glitch-Track »A Quickie in the Bouncing House« gemacht hat, begann ganz simpel mit der Eingabe des Titels in die Text-zu-Bild-Software Stable Diffusion. Doch das dabei einstehende Bild war nur der Ausgangspunkt für eine komplexe Arbeit, bei der zum einen die tausenden Einzelbilder (60 pro Sekunde) mit der Musik synchronisiert wurden und zum anderen über Feedback-Loops sichergestellt wurde, dass das fertige Video zumindest ein Mindestmaß an Kohärenz besitzt.
Wobei der Reiz von »A Quickie in the Bouncing House« gerade darin besteht, dass man hier eine Welt betritt, der eine unbehagliche Instabilität zu eigen ist. Alles befindet sich in einem ständigen Wandlungsprozess: Aus einer Hüpfburg auf dem Meer wird in der nächsten Millisekunde ein Schlauchboot, dann eine Luftmatratze.
Weitaus beunruhigender ist, was zugleich mit den Menschen passiert: Einer attraktiven Frau mit Sonnenbrille wachsen unvermittelt Muskelberge, ihre Arme und Beine sehen plötzlich seltsam verrenkt aus, sind in unmögliche Stellungen abgebogen oder verschmelzen mit dem Plastik der Hüpfburg. Und man kann nie sicher sein, dass aus der Frau nicht im nächsten Moment ein Mann oder ein Zwitterwesen mit zu vielen oder zu wenigen Gliedmaßen wird. Den verstörenden Effekt verstärkt die clean-bunte Paintbrush-Ästhetik der Bilder.
Mindestens genauso gruselig ist Marc Richters Video zu seinem Ambient-Track »Schleim des Nichtwissens«. Er präsentiert eine Abfolge von Tableaus, in denen sich seltsame Monster und Mischwesen wie Ausstellungsstücke in einem Museum darbieten. Er selbst beschreibt sein Video treffend: »Menschliche Schnecken und schneckenähnliche Menschen, menschliche Pilze und Pilze mit menschlicher Haut, Hermaphroditen und Männer ohne Genitalien erfüllen nutzlose, sinnlose, sisyphusartige Aufgaben.«
Auch Richter begann einfach damit, die bildgebende Software mit Text zu füttern, allerdings mit der Absicht, unvorhersehbare Ergebnisse zu erzielen: »Ich versuche immer, die K.I. zu überfordern. Ich gebe viel zu lange, abstrakte Texte ein, die ich selber kaum verstehe. Das Interessante ist, dass die Software trotzdem immer Bilder liefert. Bei ChatGPT nennt man das »Halluzinieren«, wenn die K.I. immer irgendwelche Antworten gibt, auch wenn die Frage unsinnig war.«
Ich versuche immer, die K.I. zu überfordern. Ich gebe viel zu lange, abstrakte Texte ein, die ich selber kaum versteheMarc Richter
An die einprogrammierten Grenzen der Software stieß allerdings Astrid Busch bei ihren Experimenten. Für ihr Video »Manitulation«, das noisige Improv-Musik unter anderem von Mitgliedern von faust und den Swans bebildert, wollte sie einen Ausschnitt aus einer Verfilmung von »Herr der Fliegen« verfremden, in dem halbnackte Jungs um ein Feuer laufen. Doch sie musste feststellen, dass die K.I. das Wort »nackt« nicht akzeptierte und den Jungs in der Bearbeitung T-Shirts anzog.
Ihr Video ist ungewöhnlich in der Oberhausener-Auswahl, weil es eine Brücke bildet zwischen alten analogen Techniken des Avantgardefilms und der K.I. 35mm-Material bearbeitete Busch zunächst manuell, indem sie es zum Beispiel Säure aussetzte. Einzelne Bildkader wollte sie dann mit Hilfe von K.I. in Bewegung versetzen, doch sie musste feststellen, dass die K.I. aus den absichtlich abstrakten Bildern immer gegenständliche machte. Plötzlich tauchten Gesichter auf, Bierflaschen — es war eine aufwändige Arbeit, der Software durch vielfache Korrektur die Abstraktion beizubringen. »Letztlich war die K.I. für mich nur ein weiteres Handwerkszeug neben verkratzen, bemalen, verbrennen«, sagt Busch.
Für Marc Richter hatte die Erfahrung eine andere Dimension: »Die K.I. ist schon etwas anderes als etwa Photoshop. Sie ersetzt teilweise meine Phantasie. Man hat schon das Gefühl, man würde mit etwas Lebendigem zusammenarbeiten. Selbst die Programmierer verstehen ja nicht genau, wie die K.I. funktioniert — das ist das Interessante und Gefährliche.« Matthew Biederman sieht es ähnlich: »Es war ein kollaborativer Prozess, in dem die K.I. und ich aufeinander reagiert haben.«
Was alle drei verbindet — und worin sie sich unterscheiden von kommerziellen oder auch den allermeisten privaten Nutzer*innen von K.I.-Anwendungen — ist, dass sie die Software gewissermaßen gegen den Strich nutzen. Sie versuchen ihr »interessante Fehler« (Richter) zu entlocken, beziehungsweise »an die Ränder dessen zu gehen, was mit diesen Modellen möglich ist« (Biederman), ähnlich wie einst Jimi Hendrix der Gitarre dissonante Feedbacks abrang. Sorge bereitet daher allen dreien, dass schon in nächster Zukunft diesen kreativen Möglichkeiten von den Software-Entwicklern ein Riegel vorgeschoben wird. »Momentan macht es noch Spaß, als Künstler mit der K.I. zu experimentieren«, meint Matthew Biederman. »Es fühlt sich so an wie in den frühen Tagen des Internets, vor der Zeit der Plattformen, als die Leute noch selber Webseiten gemacht haben, statt einfach nur ein Instagram-Profil anzulegen.«
Mi 1.5.–Mo 6.5.
kurzfilmtage.de