Auf trockenen Gräsern
Nach innen geht bei Nuri Bilge Ceylan immer schon der geheimnisvolle Weg, als wäre die deutsche Romantik eine anatolische Erfindung. Sei es ein langsamer Krimi wie »Once Upon a Time in Anatolia« (2011) oder ein Konversationsdrama wie der Cannes-Gewinner »Winterschlaf« (2014): Der türkische Autorenfilmer und Verehrer Caspar David Friedrichs spannt die Weiten seiner kargen Landschaften vor allem zu Beginn gerne ins Unermessliche auf, bis man sich und den Figuren einen Rückzugsort wünscht, einen bergenden Raum.
Den gibt es dann auch zuverlässig. Manchmal sind es rückständige Büros örtlicher Behörden, meist aber ärmliche, spärlich beleuchtete Wohnhöhlen mit Häkeldecken und dampfendem Tee. Die Zeit scheint darin stehen zu bleiben, und doch verfliegt sie beim Zuschauen, weil sich Gespräche darin ereignen, wie sie nur in Ausnahmezuständen der Konzentration möglich sind: wenn Menschen nicht nach draußen können, weil dort ein Schneesturm tobt oder eine Pandemie; wenn sie miteinander und mit sich selbst klarkommen müssen, für Stunden oder für immer. So entsteht ein Flow der gemeinsam erkämpften Bedeutungen.
Winzig, ein Strich in der Landschaft, ist der Istanbuler Kunstlehrer Samet (Deniz Celiloğlu) zu Beginn: Widerwillig stapft er auf ein eingeschneites Dorf zu, in dem er noch den Rest seines vierjährigen Pflichtdienstes ableisten muss. Scheinbar freundlich wird er aufgenommen, überall wird er zum Tee genötigt, selbst aus dem Lautsprecher eines gepanzerten Militärfahrzeugs erschallt eine Einladung zum Heißgetränk. Doch etwas Bedrohliches sickert durch die Gespräche im Lehrerzimmer, in der Cafeteria, beim alten Tierarzt. Geschichten von erschossenen Hunden kursieren, von Blutrache und verschwundenen Menschen.
Es ist gerade die Suche nach dem Bedeutsamen, der bei Ceylan immer etwas Lächerliches anhaftet
In einem unheimlichen Sog zieht Ceylan den Fokus immer enger, nach innen, während das Draußen aber präsent bleibt als Brausen hinterm Fensterglas, als schwarze, wehende Nacht. Man muss hier ausharren, mit den Figuren, im Film. Ceylan-Filme wollen im Kino gesehen werden, im Dunkeln.
Als ausgerechnet Samets Lieblingsschülerin Sevim (Ece Bağcı) ihn des unangemessenen Verhaltens bezichtigt, wird das Bedrohliche konkret und entlarvt erstmals seine arrogante Selbstbezüglichkeit. Doch Ceylans Dramaturgie zielt nicht auf Konflikt und Auflösung. Statt wie Ilker Çatak in »Das Lehrerzimmer« detektivisch vorzugehen, lässt er diesen Strang bald fallen und widmet sich stattdessen Samets Innenwelt. Von Weltoffenheit ist da bald nicht mehr viel zu spüren. Gereizt brüllt er im Kunstunterricht herum, dass es sinnlos sei, der Klasse etwas über Perspektive und Horizont zu erzählen, schließlich würde später sowieso keiner von ihnen von Kunst leben, sondern vom Kartoffelanbau für die Reichen.
Und dann biegt der Film fast in die Möglichkeit einer Dreiecksgeschichte wie »Jules und Jim« ab. Die KolleginNuray (Merve Dizdar), eine Feministin aus Ankara, hat bei einem Attentat ein Bein verloren und versucht jetzt in der Provinz ein neues Leben aufzubauen. Sie freundet sich mit Samet und dessen Mitbewohner Kenan (Musab Ekici) an. Der intensive Schlagabtausch zwischen Samet und Nuray wird zum Höhepunkt des Films: Bei Pasta und Wein hält sie ihm vor, die Verhältnisse nur zu beklagen, statt zu handeln.
Da steigt Samet wörtlich aus, geht durch eine Tür und spaziert über das Filmset. Dort wirft er eine blaue Pille ein — um wie in »Matrix« in sein bisheriges Leben zurückzukehren, oder ist es einfach Viagra? Er geht zurück ins Schlafzimmer, Nuray hat ihre Beinprothese schon abgelegt.
Es lässt sich trefflich darüber rätseln, was dieser V-Effekt zu bedeuten hat. Dabei ist es gerade die Suche nach dem Bedeutsamen, der bei Ceylan immer etwas Lächerliches anhaftet. Das zeigt sich besonders in Samets pathetischem inneren Monolog am Ende: Da steigt er einen sommerlichen Hügel hinauf, sinniert bildfüllend über das titelgebende trockene Gras, über das er hinweggeht, und über die Menschen, »die ich hinter mir ließ«, Nuray und Kenan. Darin liegt Ceylans geniale, sanfte Ironie: Samet wälzt nicht einmal einen Stein, um einen veritablen Sisyphos abzugeben, sondern nur Gedankenwolken übers eigene, einsame Erhabensein.