Rhythmen sind auch nur Muster: Kahil El’Zabar, Foto: Ave Pildas Photography

Lernen, Musik zu hören — und zu fühlen

Der Percussionist Kahil El’Zabar hat den zeitgenössischen Jazz geprägt wie nur wenig Andere. Richtig gewürdigt wird das erst seit einigen Jahren

Was heißt es, »bekannt« zu sein? Ab wann kann man davon sprechen, dass man eine bekannte ­Persönlichkeit ist? Andy Warhols Vision einer postmodernen Welt lautete bereits 1968, dass »in Zukunft, jeder Mensch für 15 Minuten weltberühmt« sein werde. Ein Glück, dass sich diese Dystopie trotz »Superstar«-Shows à la Germany’s Next Top Model nur bedingt eingestellt hat.

Dennoch: Nie schien es so leicht, tatsächliche (Welt-)Berühmtheit zu erlangen. Die Kanäle sind vorhanden, eine flotte Idee für einen Podcast, ein Hashtag, ein aktivistisches Feld oder einfach für ein besonders abwegiges ­Produkt reichen — so die Sugges­tion. Doch was heißt das für Musiker*innen, die per se darauf ­an­gewiesen sind, zumindest so ­bekannt zu sein, dass man davon (über-)leben kann — durch Konzerte, die besucht, und Tracks, die verkauft werden.

Kahil El’Zabar macht sich ­jedenfalls keine Illusionen: »Ich habe mich für eine Form der Kunst und des Entertainments entschieden, die nicht populär ist, nicht bei den Massen ankommt«. So jedenfalls urteilt der 1953 in Chicago geborene Spiritual-Jazz-Musiker El’Zabar im Dokumentarfilm »Be Known — The Mystery of Kahil El’Zabar«. Die gefeierte Dokumentation, die sogar vom Streaming-Riesen Amazon gepusht wurde, zeigt den nachdenklichen Perkussionisten während seiner »Black History Month«-Tour im Februar 2007. Der Künstler, der auf den Namen Clifton Blackburn getauft wurde, hat Recht: Massen erreicht er bis heute nicht. Dennoch hat sich vor allem  in den letzten fünf Jahren einiges getan. Im Zuge des weltweiten Jazz-Revivals, das sowohl neue Stars wie Shabaka Hutchings oder Kamasi Washington hervorgebracht, aber auch ­verblichene Karrieren wie jene der Spiritual-Jazz-Ikone Pharoah ­Sanders wiederbelebt hat, wurden die Goldgräber*innen und Archäolog*innen der Musikszene aktiv. Sie wühlten sich durch die Kataloge längst eingestellter Labels und stolperten dabei über Kahil El’Zabar. So ist mittlerweile ein ganzer Schwung seiner unzähligen und hinter etlichen Pseudonymen verstreuten Platten erheblich im Preis gestiegen.

Noch unter seinem bürgerlichem Namen ging er in den 1950ern und 60ern in Chicago zur Schule, der Vater war Polizist, seine Mutter verkaufte Brautkleider. Er wuchs in behüteten Verhältnissen auf, kam dennoch früh in Kontakt mit »abgestürzten Seelen«, wie er heute sagt. Das hat ihn nachhaltig geprägt: Bis heute ist Kahil El’Zabar bekennend »tea-total« — frei von jeglichen Drogen oder anderen Verführungen. Statt zu feiern, wechselte er lieber aufs Lake ­Forrest College, einem sogenannten »liberal arts college«. Hier kam er erstmals in Kontakt mit Musiker*innen, die Teil des gerade ­gegründeten AACM waren: Der Association for the Advancement of Creative Musicians, dem heute legendären schwarzen Musikerkollektiv in Chicago. Clifton trat der Vereinigung 1970, mit 17 Jahren, bei. Schnell machte er sich einen Namen als formidabler Drummer — sein Vater hatte ihn am Schlagzeug gelehrt und ihn hinter die Becken geklemmt, während draußen verschiedene Countercultures den Aufstand probten.

Es geht immer weiter: Bis heute ist Kahils Instru­mentarium um etliche Kesseltrommeln, Lamellophone oder die brasilianische Cuica angewachsen

Er formierte erste Gruppen, spielte mit Lester Bowie und Malachi Favors vom Art Ensemble of Chicago. Mit 22 traf er Harold Murray, genannt Black Harold beziehungsweise Atu Harold Murray. Den Beinamen hatte er nach fünf Jahren in Ghana angenommen. Murray vertrat die »Traditional ­African Music and Philosophy«, ­einen Ansatz, den er während ­seiner Zeit auf dem afrikanischen Kontinent entwickelt hatte. Auf Basis afrikanischer Rhythmen ­sollen eine inhärente spirituelle Beziehung zwischen dem amerikanischen Körper und den afrikanischen Seelen der Sklaverei-Nachkommen aufgebaut werden. Atu unterrichtete Clifton, der fortan Kahil El’Zabar heißen wollte.

Es begann eine intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Trommeln des afrikanischen Kontinents — klassisches Schlagzeug beherrschte er sowieso.

Bis heute ist sein Instrumentarium um etliche Kesseltrommeln, Lamellophone, wie die Mbira oder auch die brasilianische Cuica, ­angewachsen. El’Zabar hatte schon ein Jahr früher das Ethnic Heritage Ensemble ins Leben gerufen. »Transafrikanische Musik« hieß das Projekt, das in Chicago solche Wellen schlug, dass El’Zabar bald zum Präsidenten der AACM gewählt wurde.

In Folge spielte er als der ­»vielleicht beste Percussionist ­aller ­Zeiten« (Dizzie Gillespie) mit etlichen Granden zusammen. ­Neben Gillespie gehören Namen wie Stevie Wonder, Cannonball Adderley und Nina Simone in diese Reihe. El’Zabar war mit seinem einzigartigen Gefühl für den ­Einsatz ­afrikanischer Rhythmen der perfekte Rhythmusmotor für größere Ensembles. In der Zwischenzeit pflegte er seine eigenen Projekte. Ein Trio gehört da genauso dazu wie ein Quartett; das bereits erwähnte Ethnic Heritage Ensemble, das Infinity Orchestra und obendrauf das Ritual Trio — sie muss man alle erwähnen.

Derweil ereilte ihn ein ähnliches Schicksal wie das seines ­guten Freunds Pharoah Sanders — mit dem Aufkommen von Pop- und Funk-Jazz und (Neo-)Straight Ahead in den 80er Jahren wurden ihre Haltungen, ihr freier Stil, afrozentischer weniger gefragt. El’Zabars Melange aus Spiritual, Free und Avantgarde-Jazz kam, wenn überhaupt, noch bei sogenannten World-Music-Festivals aufs Tableau. Ausnahmen wie Auftritte beim Moers New Jazz Festival bestätigen die Regel. Ausbremsen ließ sich El’Zabar jedoch nie: Mit seinen Freunden von der AACM wie dem Art Ensemble oder dem New Yorker Saxofonisten David Murray pflegte er seinen eigensinnigen neo-kreolisierenden Entwurf immer weiter. Er überwinterte — es sollte einige Jahrzehnte (!) ­dauern, bis sich wieder ein größeres Publikum fand.

Daran hat Jazz-Superstar Kamasi Washington seinen Anteil, outetet er sich doch als Fan des mittlerweile ganz leicht grau gewordenen Percussionisten. In den letzten Jahren dann der Durchbruch und Wiederentdeckung von einem jungen Publikum mit einigen besonderen Alben. Sie läuten das Spätwerk El’Zabars ein: »America The Beautiful«, eine kritische Auseinandersetzung mit der ­insgeheimen Nationalhymne der USA, muss man nennen. Genauso wie »A Time For Healing« von 2022. Und ganz besonders »Spirit Gatherer«, das er mit seinem Ethnic Heritage Ensemble und David Ornette Cherry, dem Sohn des großen Jazz-Pioniers Don Cherry, aufgenommen hat. Es war als ­Tribute-Album zu Ehren Don Cherrys gedacht, doch entwickelte sich in eine ganz andere Richtung: Auf der Tour zum Album, bereits nach dem ersten Auftritt im Londoner Cafe Oto, verstarb am 20. November 2022 David ­Ornette ganz plötzlich. Trotz des Schocks entschied sich die Band weiterzumachen. Im King Georg am Ebertplatz, Kahils Lieblingsclub in Deutschland, konnte man nur wenige Tage später, in gleich drei Sessions, erleben, wie das Ensemble mit dem Verlust umging: Statt Konzerte erlebten wir spirituelle Feste der Trauer und des Abschieds. Die Messe las damals Dwight Trible, ein großartiger und ergreifener Sänger. Kahil El’Zabar und Trible stimmten Kanons an, sangen sich erst in Rage und dann wieder baten sie um Mitgefühl: »Let’s sing all together!«

Gemeinsam zu sich finden, das beschreibt die Arbeitsmethode El’Zabars besonders gut. Immerhin hat er, wie »Be Known«, der bereits erwähnte Dokumentarfilm zeigt und beweist, jahrelang sein Geld als Educator verdient. Er reiste von Black Colleges zu Community Colleges und zurück. Dabei lehrte er keine Techniken oder gar Drumming, sondern eine Einstellung zur Musik. An einer Stelle in der Doku erklärt er einer Gruppe, sie solle spielen, was sie fühle, nicht was sie denke. Mit solchen Weisheiten wird man zwar nicht weltberühmt, aber wieviel zählt das denn? »Bekanntheit«, so sagt er, »macht das Leben zwar leichter, aber die Musik nicht besser.« 

»Acht Brücken«
The Kahil El’Zabar Trio: »Healing music for the soul. Celebrating 50 Years of The Ethnic Heritage Ensemble’s Legacy and Unwavering Contribution to Great Black Music«
Mo. 13.5., King Georg, 19.30 & 21.30 Uhr