Roni Horn, This is Me, This is You, 1997–2000, Aufgezogene und gerahmte C-Prints, 96-teilig, je 31,8 × 26 cm courtesy Roni Horn und Hauser & Wirth; © Roni Horn

Paradox als Prinzip

Nonbinarität, wechselhafte Naturzustände und raffinierte Puzzle — Roni Horns Retrospektive im Museum Ludwig geizt nicht mit Komplexität

Flüssiges Glas scheint transparent in opaken Bassins zu ruhen. Spiegelnd blicken einhundert Porträts der französischen Schauspielerin Isabelle Huppert von weit oben herunter und aus den gläsernen Objekten herauf. Je nach Lichteinfall beginnen die kristallenen Skulpturen sogar zu leuchten, als hätten sie eine Lichtquelle verschluckt. Das Glas gerät vermeintlich in Bewegung, gleicht der Oberfläche von Wasser und verharrt doch still am Boden. Gemäß dem Titel »Untitled (The tiniest piece of mirror is always the whole mirror)« gehören die Skulpturen und die fotografischen Porträts zusammen, könnten aber auch alleine stehen.

Das Museum Ludwig versammelt derzeit über hundert Arbeiten der US-amerikanischen Konzeptkünstlerin Roni Horn zu einer großen Überblicksausstellung. Der Ausstellungstitel greift dabei ein Zitat von Patrick Henry, Vertreter der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung im 18. Jahrhundert, auf. Während er noch »Give me freedom« propagierte, heißt es nun: Give Me Paradox or Give Me Death. Paradoxien unterschiedlicher Art sind Kernmotiv von Horns Arbeiten, die sich thematisch den drei Schwerpunkten »Natur«, »Identität« und »Sprache« widmen. So sind bereits die 96 Porträtfotografien von Horns Nichte Georgia Loy, welche die Besucher*innen bereitwillig in Empfang nehmen, widersinnig. Was gleich scheint, ist nicht gleich. Denn beim direkten Vergleich der beiden gegenüberliegenden Raster offenbart sich, dass es sich hier um nur wenige Sekunden getrennte Gegenstücke handelt — ein Muster, welches sich durch die gesamte Ausstellung zieht.

Immer wieder finden sich für Horn typische Paarbildungen, sei es in Fotografie oder Zeichnung. Letztere bilden ein Highlight der Ausstellung, sind einige von ihnen doch zum ersten Mal überhaupt öffentlich zu sehen. Sie zeigen amorphe, geometrische Formen mit purem Pigment direkt aufs Papier aufgetragen oder feine zeichnerische Verästelungen. Im großen Format erinnern die fragmentierten und neu zusammengesetzten Zeichnungen an Landkarten oder Schnittmuster.

Es ist ein sehr ­persönlicher Einblick ­in die Gedankenwelt dieser bedeutsamen Künst­lerin, die Kurator ­Yilmaz Dziewior mit der Ausstellung gibt

Fragmente, die sich zu einer Gesamtheit fügen — ein weiteres Schlüsselmotiv der Ausstellung. Selbstporträts fächern alle mögliche Facetten von Identität auf, jedoch ohne feste Geschlechterzuschreibungen zuzulassen. Die 1955 in New York geborene Horn zählt nicht ohne Grund als Pionierin Queerer Kunst. Seit den 70er Jahren verwehrt sie sich Eindeutigkeiten, hat stattdessen viele Ansichten, viele Worte für ein und dieselbe Sache gefunden. So wie in ihrer 15-teiligen Serie »Still Water (The River Thames for Example)«, die Ansichten der Themse in London sowohl mit Zitaten aus Popkultur, Literatur und Film als auch mit solchen über Selbstmorde kombiniert. Gleichsam anziehend und abstoßend lassen sich somit die ästhetischen Wasserbilder deuten. Die Paarbildung wiederholt sich gegen Ende der Ausstellung mit der Fotoserie »bird«. Sie zeigt die Hinterköpfe von isländischen Wildvögeln und führt erneut vor Augen, was Horns Werke im Kern ausmachen, sind die doch gleichsam humorvoll, mehrdeutig und paradox.

Es ist ein sehr persönlicher Einblick in die Gedankenwelt einer bedeutsamen Künstlerin, die Kurator Yilmaz Dziewior mit der Ausstellung gibt. Durch Zeichnungen und Collagen lässt sich ganz nah an Horn heranrücken, werden teils ungewohnte Perspektiven auf ihr Werk geboten.

Doch obwohl Ludwig-Direktor Dziewior Arbeiten Horns bereits im Kunsthaus Bregenz gezeigt hat und seit mehreren Jahren mit ihr zusammenarbeitet, will die Ausstellung — trotz starker Arbeiten — keine Fahrt aufnehmen. Es fehlt eine Zuspitzung der angerissenen Themen, eine Vertiefung der inhaltlichen Schwerpunkte. Sicher, es kann schwierig sein, Konzeptkunst auszustellen. Hier aber verpasst man eine Chance, denn in Zeiten eines spürbaren politisch konservativen Backlashs hinsichtlich Fragen der Identität, hätte man die queere Qualität einer Künstlerin, die sich so früh mit Nonbinarität auseinandergesetzt hat, präsenter machen sollen. Nein, müssen. Das hätte sowohl der Ausstellung als auch den Arbeiten zu mehr Strahlkraft verholfen. 

»Roni Horn — Give me Paradox or Give me Death«, Museum Ludwig, bis 11.8., Di–So 10–18 Uhr, jeder 1. Do im Monat 10–22 Uhr