Diese präzise Tightness
Es gibt ja solche und solche: Künstler, die bei ihrer spezifischen Welt bleiben und sie mit jeder Veröffentlichung erweitern, oder eben jene, die ihre Ästhetik immer wieder auswechseln, wie Schauspieler ihre Filmrollen. Als Bowie-mäßig würden sie sich gut beschreiben lassen, wenn das nicht so ein Klischee wäre. Annie Clark, besser bekannt als St. Vincent, ist ein solches Chamäleon, und so erscheint ihr siebtes Album »All Born Screaming« wieder als deutlicher Bruch zu dem glamourösen 70s-Cosplay ihrer vorherigen Platte »Daddy’s Home«.
Erstmals ohne die Hilfe des scheinbar omnipräsenten Jack Antonoff, der u.a. auch Lorde und Lana Del Rey produziert, entstand die robuste Soundästhetik von »All Born Screaming«. Doch völlig alleine formte sie das Album natürlich nicht. So sitzt Dave Grohl bei »Broken Man« und »Flea« an den Drums — tatsächlich hört man das schnell heraus —, während Trent Reznor (Nine Inch Nails) zumindest gedanklich anwesend war. Musik, die fetzen und knallen und anecken soll, muss also das Ziel gewesen sein.
Eine durchweg aufbrausende Rockplatte, die durch das Frontcover — St. Vincent steht darauf in Flammen — und die Vorabsingles featuring Grohl angedeutet wurden, ist »All Born Screaming« allerdings nicht (nur). Härte muss ja nicht zwingend mit Lautstärke und Headbangen verbunden sein, sie kann auch durch präzise Tightness entstehen, ganz im Sinne von: Diese Grooves sind unzerstörbar. Du kannst darauf rumkloppen wie du willst und sie bleiben heile. So manch einen Wutausbruch gibt’s auf »All Born Screaming« trotzdem, klar, doch vielmehr soll die Härte hier durch durch das Gefühl entstehen, dass ständig etwas zurückgehalten wird. Als wären die Fäuste geballt und die Adern kurz vorm Platzen, ohne dass es je völlig eskaliert. St. Vincent will diesmal also radikal in ihrem Minimalismus sein. Das funktioniert größtenteils gut und passt auch zum textlichen Inhalt — leider sind die Produktionen/Arrangements manchmal spannender als die Songs.
Sie sei ein erschütterndes Erdbeben, eine extragroße Killerin und ein hartnäckiger Floh, der dich zum Kreischen bringt, singt St. Vincent auf ihrem neuen Album. Dass Clarke außerdem den Weltuntergang im Blick hat, wird schon mit Blick auf so manch einen Songtitel deutlich: »Hell Is Near«, »Violent Times« oder »The Power’s Out«. Letzteres Lied ist womöglich das tollste Highlight des Album (natürlich wieder Track 7; ich hab da so eine Theorie) und kommentiert die apokalyptische Grundstimmung zwar plakativ, aber effizient: »Ladies and gentlemen, it seems like we have a problem«. In »The Power’s Out« macht Clarke außerdem spannende Sachen mit ihrer Gitarre, schließlich ist sie eine der originellsten Gitarrenhelden im Indie-Rock des 21. Jahrhunderts — geschlechtsübergreifend, versteht sich. Davon hätte »All Born Screaming« ruhig mehr vertragen können.
Es fühlt sich so an, als würde das Album am Ende zu einem anderen werden
Gewissermaßen funktioniert der Songtitel »The Power’s Out« auch als Beschreibung des Stimmungswechsels, den das Album mit und vor allem nach diesem Track vollzieht. Das darauffolgende Stück »Sweetest Fruit« funktioniert als catchy Popnummer zwar gut, hat jedoch nur wenig mit apokalyptischer Gewalt und vielmehr mit dem Art-Funk des kanadischen Musikprojekts U.S. Girls zu tun, während das (im negativen Sinne) verwunderte Stirnrunzeln dann bei dem unattraktiven Space-Reggae von »So Many Planets« unausweichlich ist. Der funkige, aber keineswegs harte Titeltrack »All Born Screaming« ist als Schluss ebenso unbefriedigend, weil die brennende Frau vom Frontcover hier scheinbar völlig verschwunden ist.
Es fühlt sich fast so an, als würde das Album am Ende zu einem anderen werden, ohne diese Verwandlung sinnvoll einzurahmen. Nach interessanten Gedanken zum erfolgreichen Manövrieren der eigenen Angst vorm Weltuntergang — diese wird ja sehr wohl suggeriert — sucht man ebenfalls vergebens. »All Born Screaming« ist als nächstes Kapitel in der Geschichte von St. Vincent interessant, weil sie wieder eine andere musikalische Richtung eingeschlagen hat, viel mehr jedoch nicht.
Tonträger: St. Vincent, »All Born Screaming«, erscheint am 26. April (Virgin Music Group)