In der Poschmannwolke
Vor den Toren der Stadt, wo man sich am Wochenende mit Tofuschnitzel und Pumpkin Pie in seiner Blockhütte einrichtet, brennt der Wald. Mathilda, Olivia und Birte, drei alte Freundinnen, sind an einem frühherbstlichen Samstag zum Wandern verabredet. Wie einen Pokal hält Olivia den Stalaktiten, den sie in einer Höhle im Wald abgebrochen hat, und Managertypen in Neonfunktionskleidung gesellen sich zu den drei Frauen, Mathilda spürt ihre Schritte, die Erschütterungen, die sie auf dem Boden verursachten, kleine Beben, Geräuschwellen, und sie lauschte alarmiert wie ein kleines Tier, setzte sich auf. Dann blinken die Eilmeldungen auf den Smartphones auf, kreisen Hubschrauber über dem Wald, spritzt man die Blockhütte mit dem Gartenschlauch ab. Eine Rußwolke wies ihnen den Weg, als die Freundinnen einige Tage später noch einmal durch den Wald gehen, in dem ihnen die Gummistiefel in Glutnestern schmelzen.
In »Chor der Erynnien«, ihrem jüngsten Buch, lässt die Romanautorin, Essayistin und Lyrikerin Marion Poschmann ihrer Protagonistin Mathilda Zeit, sich mit dem Hochsicherheitstrakt ihres Lebensentwurfs auseinanderzusetzen. Sie ist die gesamte erzählte Zeit von rund einer Woche allein, ihr »Gatte«, wie es im Roman vielsagend heißt, hat überstürzt die Stadt verlassen. Wer Poschmanns Vorgängerroman »Die Kieferninseln« kennt, der 2017 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gelangte, weiß, dass es sich um den nach Japan geflohenen Bartforscher Gilbert Silvester handelt, der träumte, dass seine Frau Mathilda ihn betrügt.
Diesmal ist sie selbst das Zentrum des Romans. Mathilda ist Lehrerin für Mathematik und Musik, weil es in diesen Fächern richtige und falsche Lösungen, keine Halbheiten, keine Ambivalenz gibt, und als Olivia sagt, sie habe Mathilda vermisst, zuckt diese zusammen, denn das war im Rahmen ihrer Bekanntschaft dann doch etwas stark. Die Gegensprechanlage im Bauhausheim der Silvesters verfügt über eine Kamera. Bloß eine eigene Stimme verleiht Poschmann ihrer neurotischen Protagonistin und auch den Nebenfiguren in Dialogen und erlebter Rede nicht, man kann die Figuren im »Chor der Erynnien« nicht hören. Allerdings misslingt in diesem Sinne nicht die Figurenzeichnung, sondern allzu viel psychologische Differenzierung lehnt Poschmanns Realismus, an den Rändern ausfransend wie Zirruswolken, ab.
Geisterhaftes bricht in die Erzählwirklichkeit ein, was in diesem Roman, in dem der Klimawandel eine Rolle spielt, nur auf den ersten Blick verblüfft. Es scheint wie eine dialektische Absetzbewegung von der technizistischen Ausbeutung von Natur und Umwelt und den sie ermöglichenden hyperaufgeräumten Lebensmodellen. Träume, kaum mehr von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Visionen von Birte in der Badewanne, wo sich das Badesalz türmt, das Mathilda soeben ins Badewasser schüttete. Nach dem Opernbesuch mit der Schulklasse schluckt im Parkhaus der Kassenautomat Mathildas Münzen und Scheine, ohne zu reagieren. Die Protagonistin wähnt einen Fluch auf sich, und allein im baumumstandenen Haus erinnert sie sich an den legendenhaften Sturm, der in der namenlosen Stadt viele Bäume entwurzelte, just am zurückliegenden Pfingstwochenende. Das neutestamentarische Motiv flankieren etliche antike Mythenreferenzen, die titelgebenden Erynnien werden zu regelrecht performativen Rachegöttinnen, die den Realismus dieser Prosa aufmischen wie dräuende Wolkentürme einen Sommernachmittag.
Poschmanns Gedichte sind kompositareiche Verse, die sich verdichten zu einer intensiven haptischen Wahrnehmungspoesie
In der Lyrik der begnadeten Dichterin Marion Poschmann hat in den vergangenen Jahren das »Geistersehen«, so der Titel ihres 2010 erschienen Gedichtbandes, Platz gemacht für materielle Fragen. Die Poschmannwolken sind von Band zu Band mitgezogen, von »unter Wolken« aus jenem »Geistersehen« bis zu »Nimbus«, dem titelgebenden Schlusspoem des jüngsten Gedichtbandes von 2020. Wie ein Nimbostratus, eine Niederschlag bringende bläulichgraue Wolkendecke, wirkt diese poetische Bilanz: Wir blieben die Provokation, das Problem: etwas / Ausgeschnittenes, das sich nie wieder einfügen ließ. Die menschengemachte ökologische Zerstörung hat Einzug gefunden in Poschmanns Lyrik. Ich taute Grönland auf mit meinem Blick, heißt es im Auftaktgedicht am Fenster eines Langstreckenflugzeugs, und laß uns von Erdöl sprechen, in »Restschnee«. Quellende Wolkenformen hingegen sind weitere weiche Bleibebemühungen, ein angedeuteter Kontrapunkt zu fossiler Mobilität im lyrischen Triptychon »Bäume der Erkenntnis«. Absurdes bis Surreales widerfährt den lyrischen Ichs in diesen Gedichten, kompositareichen Verse, die sich verdichten zu einer intensiven haptischen Wahrnehmungspoesie, die den Abgründen des Anthropozäns eine kitschfreie Innigkeit abtrotzt. Als »postromantisches Naturgedicht« hat der Literaturkritiker Michael Braun den Fluchtpunkt von Poschmanns Lyrik bezeichnet.
Insbesondere in östlicher Richtung ziehen bei dieser Dichterin die poetischen Wolken, nach Sibirien, China, Japan, vornehmlich in die Landschaft, aber auch in die Zoologie, Farbtheorie, Geschichte, Mythologie oder chinesische Gartenkunst, die Interessengebiete dieser Poeta Docta. Im Sonettenkranz »Die Große Nordische Expedition« über den Sibirienforscher Johann Georg Gmelin (1709-1755) kreuzen sich Poschmanns Interesse an historischen Figuren und ihre virtuose Formbeherrschung. Zum verklärten Korsett gerät ihr die traditionelle Form aber nie, klagend klingt »Helsinki, Sibeliuspark. Elegie« aus dem Vorgängerband »Geliehene Landschaften«, obwohl darin die Stunde schmelzender Polkappen, tauender Taiga schlägt, nicht. Das Hymnische und das strenge metrische Schema der klassischen Ode eines Friedrich Gottlieb Klopstocks — der »Nimbus« als Zitatgeber Pate steht: Langsam wandelt / die schwarze Wolke — haben die »Seladon-Oden« bei Poschmann nicht. Im Gegenteil, Witz lüftet die klassische Form, in der die »Ode an die Bordsteinflechte« so schließt: als gäbe es dies: den vollkommenen Ernst / Bürgersteige, über die die Kehrmaschine fegt.
In Poschmanns Prosa setzt sich die kunstvolle Poesie der Dinge fort. In den »Chor der Erynnien« sind erstmals kursiv gesetzte gedichtartige Passagen montiert, und lesend wendet man plötzlich einen Stift Tafelkreide in der Hand, glaubt man bei den poetischen Kreideexkursen. Für Mathildas Naturwahrnehmungen,
die mehr sind als Beschreibungsprosa, gilt wie ein Motto, was die Protagonistin in ihrer Identitätskrise einmal in einer Parkanlage vor einer Stunde mit dem Mathe-Leistungskurs spürt: Etwas Haltloses hing im Raum und verwickelte die Gegenstände in Gedanken.
Marion Poschmann: »Chor der Erinnyen«, Suhrkamp, 189 Seiten, 23 Euro
stadtrevue präsentiert
Literarischer Salon mit Marion Poschmann, Navid Kermani, Guy Helminger, Do 2.5., Stadtgarten, 20.30 Uhr