Verfolgte Unschuld
Die Kunst, ein Filmfestival zu programmieren, besteht nicht nur darin, die richtigen Filme auszuwählen (und sie zu bekommen), sondern auch darin, dem Programm eine Dramaturgie zu geben, in der die Filme untereinander zu kommunizieren scheinen. Cannes beweist auch darin immer wieder seine Meisterschaft.
Der Beginn des Festivals stand unter dem Banner feministischer Umdeutungen der jahrhundertealten Erzählung von der »damsel in distress«, im Deutschen gerne frei übersetzt als »verfolgte Unschuld«. In Agathe Riedingers »Wild Diamond« könnte diese »Unschuld« allerdings nicht sündiger aussehen. Liane ist 19, hat aufgespritzte Lippen, gemachte Brüste, trägt ihre Hotpants gerne vorne halboffen und das Top bauchfrei. Sie nennt sich selbst Influencerin, hat einige Tausend Follower bei TikTok, wo sie sich gerne freizügig zeigt. Ihr Ziel: Sie möchte die Kim Kardashian Frankreichs werden. Einen Schritt näher an ihren Traum scheint Liane gekommen zu sein, als eine Produzentin einer beliebten Reality-TV-Serie sie anruft und Interesse bekundet, sie zu casten.
Ihre virtuelle »Berühmtheit« steht allerdings in starkem Kontrast zu Lianes »echtem« Leben. Sie lebt mit ihrer Mutter und kleinen Schwester unter prekären Bedingungen, klaut Kosmetik und Klamotten und hat weder einen Freund noch überhaupt jemals Sex gehabt – wobei sie von Männern natürlich immer wieder als leichtes Opfer gesehen wird. Sex-Appeal ist für Liane jedoch einzig Mittel, um Sichtbarkeit, Anerkennung und Geld zu bekommen, eine andere Chance sieht sie nicht. In diesem Widerspruch liegt der Reiz von Agathe Riedingers Langfilmdebüt und in einer Tour-de-Force-Performance von Hauptdarstellerin Malou Khebizi in ihrer ersten Rolle.
Bailey, Protagonistin von Andrea Arnolds »Bird«, kommt zwar aus einem ähnlich randständigen Milieu, könnte aber kaum unterschiedlicher sein von Liane. Als ihr selber noch jugendlich wirkender Vater seine neue Freundin heiraten will, kauft er Bailey einen körperbetonten pinken Leoparden-Jumpsuit, den sie als Trauzeugin tragen soll. Aus Protest schneidet sich Bailey daraufhin ihre Haare kurz, sodass sie fast wie ein Junge wirkt. Diese geschlechtliche Uneindeutigkeit wird gespiegelt von einem Fremden, den sie eines Tages auf einer Wiese trifft. »Bird«, gespielt von Franz Rogowski, entspricht so gar nicht dem typischen Männerbild aus Baileys Umgebung: Er trägt Röcke, ist spielerisch, sensibel und nimmt Kinder ernst. Und während Baileys Vater als verantwortungsvolle Stimme abwesend ist, ist Bird auf der Suche nach seinem Vater, den er nie kennengelernt hat. Mehr soll nicht verraten werden, außer dass Arnold mit »Bird« ihren impressionistischen Realismus, den sie mit »Fish Tank« und »American Honey« perfektioniert hat, zum magischen Realismus überhöht. Das ist in einzelnen Sequenzen von berauschender Schönheit, insgesamt aber wirkt der Film zugleich überfrachtet und auf symbolischer Ebene wenig originell.
Von geradezu altmeisterlicher Souveränität ist Magnus von Horns »The Girl With the Needle«. Protagonistin Karoline schlägt sich am Rande des Existenzminimums im Kopenhagen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg durch das Leben. Ihr Mann ist nicht aus dem Krieg zurückgekehrt, aber eine Affäre mit dem Besitzer der Fabrik, in der sie arbeitet, macht ihr Hoffnung auf ein besseres Leben. Als ihr Mann eines Tages schwer verstümmelt doch noch heimkommt, jagt Karoline ihn davon. Ihr Traum von Reichtum und Sicherheit durch Heirat mit einem reichen Mann scheitert allerdings an der Realität einer Klassengesellschaft. Und so ist sie bald wieder ohne Mann und ungeschützt – und diesmal auch noch schwanger.
Bei einem Abtreibungsversuch in einem Badehaus lernt Karoline die ältere, charismatische Dagmar kennen, die verspricht, eine Lösung für ihr Problem zu haben. Nach der Geburt des Kindes besucht sie die Ladenbesitzerin, die eine gute Familie für das Baby finden will, wie schon für so viele andere verzweifelte junge Mütter vor ihr. Die beiden Frauen freunden sich an und Karoline zieht zu Dagmar. Doch bald hat Karoline einen schlimmen Verdacht, die die Beziehung der beiden Frauen auf eine unmögliche Probe stellt.
Die herausragenden darstellerischen Leistungen von Trine Dyrholm und Vic Carmen Sonne, die von Schwarzweiß-Fotografie aus den 1920er Jahren inspirierte Kameraarbeit von Michal Dymek und die im Kontrast dazu moderne Musik von Frederikke Hoffmeier, sie alle wären preiswürdig, ebenso wie von Horns Regie.
Zwei mal schon hat Francis Ford Coppola die Goldene Palme von der Côte d’Azur mit nach Kalifornien genommen – für »The Convesation« und »Apocalypse Now« –, dass es ihm mit »Megalopolis« ein drittes Mal gelingen wird, ist eher unwahrscheinlich. Über das selbstfinanzierte 120-Millionen-Dollar-Werk nur wenige Zeilen zu schreiben, ist fast unmöglich: zu viel passiert, zu viel Kulturgeschichte wird verwurstet, zu groß sind die Ambitionen. Am Ende lässt sich allerdings sagen, selten war ein Film, der dem Publikum so viel anbietet, so voller Leerlauf – und selten sah ein Film, der so teuer war, so billig aus. Aber am Ende rührt doch, wie sich der 85-jährige Coppola mit »Megalopolis« gegen seine eigene Vergänglichkeit stemmt mit einer letzten titanischen Kraftanstrengung, in der er mal eben die ganze Welt zu erfassen und zu heilen sucht. Man kann es natürlich auch Hybris nennen. Mehr dazu, wenn der Film in die deutschen Kinos kommt, der Verleih Constantin hat sich der Aufgabe angenommen, für dieses Mega-Monstrum von Film in Deutschland ein Publikum zu finden.
Ganz anders als Coppola ist sein Generationskollege Paul Schrader, mit »Oh, Canada« hat auch er einen Film gemacht, der sich nach Abschied anfühlt, aber wo Coppola zur barocken Grandezza strebt, bleibt Schrader sich ebenfalls treu und erzählt einmal mehr von den Lebenslügen eines letztlich einsamen Mannes. Leonard Fife ist als linker Dokumentarfilmer eine Legende, jetzt, schwer an Krebs erkrankt, gibt er ehemaligen Studierenden von ihm die Möglichkeit zu einem finalen Leben und Lebenswerk umspannenden Interview. Für Fife wird dies die Gelegenheit, vor der Kamera – und vor allem vor seiner Frau – offenzulegen, dass er alles andere als der moralisch integere Mann und Künstler war, für den er sich immer ausgegeben hat.
Das Kammerspiel wird aufgelockert durch Rückblenden, in denen Schrader filmisch interessante Möglichkeiten findet, die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen zu bebildern. Doch so ganz uneitel wirkt auch das nicht, vielleicht weil der alte Fife von Richard Gere gespielt wird, mit dem Schrader zuletzt 1980 bei »American Gigolo« zusammengearbeitet hatte. Der 74-jährige Gere sieht jedenfalls immer noch zu unverschämt gut aus, um wirklich als Mann am Ende seines Lebens zu überzeugen.