May December
Als Elizabeth Berry (Nathalie Portman) vor dem Haus der Familie steht, bei der sie zur Grillparty eingeladen ist, entdeckt sie vor der Tür ein braunes Päckchen. Sie hebt es auf, und weil nach dem Klingeln niemand öffnet, geht sie ums Eck zum Gartengrundstück. Dort wird sie von Gracie Atherton-Yoo (Julianne Moore) erkannt und begrüßt. Ein Blick auf das Päckchen genügt der Gastgeberin für einen Verdacht, der sich beim Öffnen der Verpackung bestätigt: »Ich wusste es. Es ist S-H-I-T«, erklärt sie Elizabeth. Sie ist den anonymen Hass gewohnt — es ist nicht das erste Mal, dass sie und ihr Mann Joe Exkremente erhalten.
Das Paket ist Ausdruck des Ekels und der Empörung, die dem Paar entgegenschlagen, seit es vor 23 Jahren zusammenfand. Damals war Gracie Mitte dreißig, verheiratet und zweifache Mutter, und begann eine leidenschaftliche Affäre mit Joe, der zu dem Zeitpunkt 13 Jahre alt war. Als das Verhältnis aufflog, stürzte sich die Regenbogenpresse auf den Fall, Gracie wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. Doch die verbotene Liebe überdauerte: Nach der Freilassung heiratete das Paar, Gracie bekam mit Joe drei weitere Kinder. Nun leben sie wie eine fast gewöhnliche Familie in Savannah, Georgia.
»May December« beruht auf einem realen Fall. 1996 wurde der Lehrerin Mary Kay Letourneau ein Verhältnis mit ihrem zwölfjährigen Schüler Vili Fualaau zur Last gelegt, sie kam ins Gefängnis. Die beiden Kinder, die aus der Beziehung hervorgingen, wuchsen bei Fualaaus Mutter auf, bevor das Paar 2005 heiratete. Die Ehe hielt 14 Jahre, dann kam die Scheidung. 2020 erlag Letourneau mit 58 einem Krebsleiden. Haynes und sein Drehbuchautor Samy Burch nehmen den Fall jedoch lediglich als Grundlage, um daraus eine High-Camp-Spiegelfechterei aus Schein und Sein zu kreieren, eine Charakterstudie zweier Frauen, die auf je eigene Weise Trugbildern aufsitzen und zwischen Wahrnehmung und Projektion zunehmend weniger unterscheiden können.
Elizabeth Berry, die zur Grillparty eingeladen ist, ist eine populäre TV-Schauspielerin, die Gracie in einem Spielfilm darstellen soll. Zur Vorbereitung auf das True-Crime-Drama ist sie in den Süden gereist. Das Aufeinandertreffen der beiden Frauen wird zum Ego-Duell. Elizabeth observiert, fragt das Umfeld aus: die drei fast erwachsenen Kinder, Gracies Ex-Mann, den Besitzer der Zoohandlung, in der Gracie mit dem minderjährigen Schüler beim Sex erwischt wurde. Sie nutzt schließlich auch das Interesse des inzwischen 36-jährigen Joe an ihr, um an einen Liebesbrief von Gracie mit intimen Details zu gelangen. Diese hat sich im Lauf der Jahre eine Opferrolle zurechtgelegt, empfindet die Anwesenheit der Schauspielerin zunehmend als Bedrohung.
Todd Haynes hat zum sechsten Mal mit Julianne Moore zusammengearbeitet, die ihren Porträts verzweifelter Hausfrauen eine weitere Facette hinzufügt
»May December« ist ein bemerkenswertes Konstrukt aus Melodram, psychologischem Thriller und düster funkelnder Tragikomödie. Für seinen neunten Spielfilm hat Todd Haynes (»Carol«) zum sechsten Mal mit Julianne Moore zusammengearbeitet, die nach »Poison« und »Far From Heaven« ihren Porträts verzweifelter Hausfrauen eine weitere Facette hinzufügt. Nathalie Portman ist dagegen erstmals in einem Film des Regisseurs zu sehen.
»May December« bleibt faszinierend ambivalent in seiner Haltung gegenüber seinen Protagonistinnen. Das Publikum ist bei der Bewertung auf sich selbst zurückgeworfen. Ausgestellte Zooms und ein hochdramatischer Score erzeugen einen Distanzierungseffekt, der stets bewusst macht, wie Haynes mit den Erwartungen spielt. Vor allem aber macht er bewusst, wie wir als Zuschauende letztlich von dieser Skandalgeschichte unterhalten werden und uns mit unserem Voyeurismus zu Komplizen machen. Das Schillernde liegt auch am Spiel der beiden herausragenden Hauptdarstellerinnen, die Haynes immer wieder vieldeutig vor Spiegeln platziert. Doch die eigentliche Entdeckung ist Ex-Serienstar Charles Melton (»Riverdale«), der Joe als gebrochenen jungen Mann anlegt, der seinen Kindern eher Freund als Vater ist und erkennen muss, dass er vom Leben insgeheim mehr erwartet, als ihm Gracie bieten kann und will. Doch womöglich ist auch das ein Trugschluss.
USA 2023, R: Todd Haynes
D: Julianne Moore, Natalie Portman, Charles Melton
113 Min. Start: 30.5.