Zeitgenössisch radikal
Doch, das muss gehen: Teil der künstlerischen Leitung eines Theaters zu sein, aktuell an dem großen Projekt der Neuausrichtung dieses Theaters zu arbeiten, und sich dennoch nicht von dem Job auffressen zu lassen. Jascha Sommer geht diesen Weg. Seit November ist er in der künstlerischen Leitung des Freien Werkstatt Theaters in der Kölner Südstadt — im Team und in Teilzeit. Eigene Projekte als Performance- und Videokünstler will der 37-Jährige weiter verfolgen und natürlich genügend Zeit für seine Familie haben. »Das Freie Werkstatt Theater hatte schon immer das System der Co-Leitung, das passt also. Und weil hier auch immer projektorientiert gearbeitet wurde, ist die Bereitschaft groß, sich auf neue Ideen einzulassen«, sagt er im Interview.
Für diese neuen Ideen werden — nach der Phase der Einarbeitung in dieser Spielzeit — ab dem nächsten Sommer er und Dana Liu, bisher beim Berliner Ringtheater, verantwortlich sein. Für den Übergang sorgt Guido Rademachers, der seit 2019 in der Theaterleitung tätig ist und diesen Job auch weiter macht, während Liu zunächst als Freie Damaturgin und Kuratorin arbeiten wird. »Dana und ich hatten die gleichen Ideen, aber unabhängig voneinander. Beide wollen wir das Theater stärker politisch ausrichten, beide wollen wir dafür nicht auf konventionelle Formen, die ein Theater traditionell bereit stellt, zurückgreifen.« Die Leitfrage für Sommer ist: »Wie finden wir künstlerische Formen, die brennende politische Themen aufgreifen und bearbeiten, ohne dass es unbedingt tagesaktuell sein muss?«
Hintergrund Sommer ist eine dramaturgische, performative, theoretische Schule, die heute einerseits voll etabliert ist, andererseits immer noch hoch umstritten ist: die Postdramatik. Rene Pollesch wird dazu gezählt, die Gruppe Rimini Protokoll oder auch die Programme des Theatermachers Matthias Lilienthal. Alles sehr heterogen. Sommer ist bereits mit dieser Schule, die sich seit den 1980ern etwa aus dem Musiktheater Heiner Goebbels’ oder den Brecht-Dekonstruktionen Heiner Müllers entwickelt hat, groß geworden, hat in Bochum Theaterwissenschaften studiert, wo die Postdramatik eine wichtige Orientierung war. Seine eigenen Arbeiten, aktuell der mit Jakob Engel erarbeitete Audiowalk »Vom Ende her …« der in Detmold beim Straßentheater-Festival Bildstörung zu sehen und zu hören war, sind nicht für die klassische Bühne konzipiert. Wie lassen sich die sehr unterschiedlichen Ansätzen, die man als Postdramatik bezeichnet, auf einen Begriff bringen? »Es geht darum, anders politisch Theater zu machen«, überlegt Sommer. »Wir bringen nicht nur ein Stück auf die Bühne, um einen zeitgenössischen Konflikt zu bebildern oder zu verhandeln, sondern die Produktionsbedingungen am Theater selber müssen mit thematisiert, bearbeitet und verändert werden.«
Diese kritische Reflexion der eigenen Arbeit ist ein Teil der Postdramatik. Ein anderer besteht darin, nicht von einem festen Formenkanon auszugehen, sondern vom Inhalt her, vom Stoff, zu dem die passende Form erst gefunden werden muss. Oder wie Sommer sagt: »Die Tradition des Theaters, der Bühne, der dramatischen Erzählung usw. determiniert nicht länger den Inhalt.« Deshalb also der paradoxe Zustand, dass selbst erfolgreiche postdramatische Theaterkünstler immer umstritten bleiben, eben weil sie nicht auf eine verbindliche Tradition zurückgreifen, sondern im besten Fall die permanente Revolution der künstlerischen Mittel verkörpern (was natürlich auch zu einer Masche verkommen kann).
Vom Zeitgenössischen auszugehen, erlaubt mir, die Komplexität der Globalität auf der Bühne zu verdichtenJascha Sommer
Was bedeutet das konkret für seine Arbeit am Freien Werkstatt Theater? Hier herrschte schon seit der Gründung 1977 der Geist der kollektiven Stückentwicklung vor. Den, so Sommer, wolle er wieder aufgreifen.
»Aus der Schauspieltradition hat man gelernt, dass Schauspieler senden. Aber man nimmt denen das heute nicht mehr so ohne weiteres ab. Natürlich kommen viele Leute ins Theater, um einen Schauspieler auf der Bühne zu sehen, der eine Rolle spielt. Das wird auch bei uns weiterhin Bestandteil des Programms sein. Aber ich möchte daran die Frage knüpfen, wie können wir die Leute auch für andere Formate begeistern?« Diese Frage verstehen er und Dana Liu als eine grundsätzlich: Intensiv werde am Haus diskutiert, für welche Gruppen und Communitys man sich öffnen kann und will. Das betrifft die Verwurzelung im Veedel rund um den Zugweg, die Arbeit im gesamten städtischen Raum, die Ensembles, mit denen man zukünftig zusammenarbeiten will. Das betrifft auch die Arbeitsbedingungen am Theater: Wie lassen sie sich angemessen — zeitlich akzeptabel und vergleichsweise gut bezahlt — gestalten?
»Wir wollen in der nächsten Spielzeit zwei Schwerpunkte setzen«, sagt Sommer. »Einerseits ein Festival von Dana, ›Buried Secrets‹ — vergrabene Geheimnisse, das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Da geht es um Rohstoffgewinnung und -handel und dessen koloniale Implikationen. In der ersten Jahreshälfte des nächsten Jahres werde ich den Schwerpunkt setzen, mir geht es um alternative Konzepte von Gemeinschaften und Gemeinschaftlichkeit, um den Charakter von Utopien im Kontext einer sehr prekären Weltlage.« Auf Tagespolitik zielt das nicht ab, Jascha Sommer redet oft von Zeitgenossenschaft. »Damit ist nicht das jeweils Aktuelle gemeint. Vom Zeitgenössischen auszugehen, erlaubt mir, die Komplexität der Globalität auf der Bühne, einer installativen Arbeit im Foyer oder bei einem Audiowalk im Veedel zu verdichten.«
Der Anspruch gilt auch für die eingeladenen Produktionen: Nach einem europaweiten Open Call zu den Themen der nächsten Spielzeit gab es 300 Einsendungen, 15 wurden ausgewählt und sind zwischen November und März 2025 zu sehen. Voraussetzung: Wagemut, Experimentierfreude, Unbefangenheit. »Wir kommen radikal vom Inhaltlichen, von den Themen, und fragen uns: Was braucht dieser Inhalt für eine Form? Dass man die Form im Prozess entwickelt, ist unser Anspruch an die Produktionen.«
Einige Kostproben, buchstäblich!, konnte man bereits diese Spielzeit schon erleben: Jascha Sommer hat eine kleine Kochshow etabliert — die aber »Wir müssen reden« heißt. Was bedeutet, dass die Referenten für ihr (und vor ihrem) Publikum kochen und alle hinterher gemeinsam essen. Davor, dazwischen und danach, formell und informell, wird geredet. Über Utopien zum Beispiel oder über politischen Aktivismus angesichts von Krieg und Klimakatastrophe. Eine ungewöhnliche Konstellation. Aber schon Brechts Meister Me-Ti wusste: »Wenn man nicht nach Genuß strebt, nicht das Beste aus dem Bestehenden herausholen will und nicht die beste Lage einnehmen will, warum sollte man da kämpfen?«
Offenlegung: Der Autor hat am 31. Januar bei »Wir müssen reden« teilgenommen, um über Utopien zu reden und seine superleckere Gemüsesuppe zu kochen.