Anwältin in ungewöhnlicher Mission: Zoe Saldaña (l.) in »Emilia Pérez«

Das Jahr der Frauen

Mit einem Überraschungsgewinner gehen die Internationalen Filmfestspiel von Cannes zu Ende

Als am Freitagnachmittag der Applaus im Grand Théâtre Lumière nicht mehr aufhören will, sind sich viele sicher, den Gewinner des 76. Internationalen Filmfestivals von Cannes gesehen zu haben. »The Seed of the Sacred Fig« lief als vorletzter Film des Wettbewerbs. Ob Regisseur Mohammad Rasoulof zur Weltpremiere anwesend sein würde, war bis zuletzt unsicher, war er doch erst kurz vor Festivalbeginn aus seinem Heimatland geflohen. Dort drohten dem Filmemacher unter anderem eine Haftstrafe von acht Jahren und Auspeitschung, sein Pass war ihm schon 2017 abgenommen worden.

Der Applaus galt dem Heldenmut Rasoulofs, der viele Jahre im Iran mit seinen Filmen Widerstand gegen das theokratische Regime geleistet hat, aber natürlich auch seinem Film, der einmal mehr zeigt, wie die Grausamkeit des Systems bis in alle zwischenmenschlichen Beziehungen hineinwirkt.

Im Mittelpunkt steht die Familie des Anwalts Iman, der gerade auf den Posten eines Staatsanwalts befördert wurde und sich Hoffnung macht, irgendwann einmal zum Richter am Revolutionsgerichtshof ernannt zu werden. Doch die Beförderung kommt nicht ohne ihre Fußangeln. Vom gewissenhaften Iman wird erwartet, Todesurteile zu fordern, obwohl er keine Chance bekommt, sich vorher mit der Beweislage vertraut zu machen. Zudem wird ihm eine Waffe gegeben, um sich und seine Familie zu beschützen: Als Staatsanwalt macht man sich Feinde – besonders in einem menschenverachtenden System.

Man muss keinen Tschechow gelesen haben, um zu ahnen, dass die Waffe im Verlauf der Geschichte noch eine besondere Bedeutung bekommen wird. Weniger vorhersehbar sind die Dynamiken, die sich innerhalb der Familie durch die Beförderung ergeben. Eifrig versucht Mutter Najmeh jedenfalls zunächst, die beiden Töchter Rezvan und Sana auf Linientreue einzuschwören, während auf den Straßen nach dem Tod von Jina Amini die »Women Life Freedom«-Proteste ihren Höhepunkt erreichen. Rasoulof schneidet immer wieder Handyvideo-Aufnahmen der realen Proteste in seinen Film. Packend ist, wie die zunehmende Paranoia den Zusammenhalt der Familie immer weiter zerstört. Jeder und Jede hat seine/ihre Gründe, was nicht heißt, dass alle gleich zu bewerten sind. Am symbolträchtigen Ende steht die Botschaft, dass die Hoffnung für die iranische Gesellschaft in der Widerstandskraft der Frauen liegt.

Der Jury um »Barbie«-Regisseurin Greta Gerwig war »The Seed oft he Sacred Fig« am Ende aber nur einen Spezialpreis wert, anders als noch vor vier Jahren, als Rasoulofs (schwächerer) Vorgängerfilm »Doch das Böse gibt es nicht« in Berlin die Goldene Palme gewann. Es ist vielleicht zu viel in diese Entscheidung hineininterpretiert, zu vermuten, dass die Zeit solcher Symbolpolitik ihren Höhepunkt überschritten hat. Klar ist, dass die beispiellose Erfolgsserie iranischer Filme bei internationalen Preisveranstaltungen in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur der – ohne Zweifel – herausragenden Qualität der Kinematographie des Landes zu verdanken ist. In Cannes wurde aus dem Iran bislang nur Abbas Kiarostami 1997 für »Der Geschnack der Kirsche« mit einer Goldenen Palme bedacht.

Eine überzeugende Alternative zu »The Seed oft he Sacred Fig« hat die Jury mit Sean Bakers »Anora«, der am Ende die Goldene Palme verliehen bekam, allerdings nicht unbedingt gefunden. Was nicht heißt, dass ein schlechter Film ausgezeichnet wurde: Nur gab es schon erzählerisch und visuell wagemutigere Filme des 53-jährigen Amerikaners. Wie so oft in seinem Werk geht es um Sexarbeit. Die Prostituierte Anora wird im New Yorker Stripclub, in dem sie arbeitet, auf einen jungen Russen angesetzt, der mit Geld um sich schmeißt, als wäre es Konfetti. Aus dem ersten Abend werden wiederholte Treffen in Vanyas Traumvilla – oder vielmehr der seines Vaters, ein milliardenschwerer russischer Oligarch. Anora und Vanya heiraten spontan auf einem Trip nach Vegas – es ist klar, dass das Vanyas Eltern nicht gefallen wird. So vorhersehbar die Story ist, so überraschend ist, dass Baker daraus eine Komödie macht.

Die zierliche Anora weiß sich auf jeden Fall gut zu wehren gegen die russischen (genauer: armenischen) »Fixer«, die versuchen, sie im Auftrag der Eltern von Vanya zu trennen. Hauptdarstellerin Mikey Madison ist eine Naturgewalt, die mit starkem New Yorker Akzent und viel Körpereinsatz den Film mühelos trägt. Aber ihre Rolle hat nicht die moralische Komplexität der Hauptfigur aus Bakers letztem Film »Red Rocket«, noch hat der Film visuell und sexualpolitisch das transgressive Potential wie Bakers auf Mobiltelefonen gedrehter »Tangerine« aus dem Jahr 2015.

Mehr Mut hätte die Jury bewiesen, wenn sie Jacques Audiards Musical »Emilia Pérez« den Hauptpreis gegeben hätte. Ein Film, den man sicher nicht vom Regisseur von »Ein Prophet« oder »Der Geschmack von Rost und Kirschen« erwartet hätte. Was beginnt wie die Geschichte einer Anwältin aus Mexiko City, die an der misogynen Rechtsprechung im Lande zu verzweifeln droht, entwickelt sich erst zu einem Thriller und dann zu einem Melodram mit Almodóvar-Anklängen, nachdem sie von einem Drogenkartellboss angeheuert wird, einen ganz besonders heiklen Auftrag zu erfüllen. Mehr lässt sich vom Film eigentlich nicht erzählen, ohne entscheidende Plotwendungen zu verraten. Je weniger man vorher weiß, desto besser ist sicherlich das Kinoerlebnis. Nur so viel sei verraten: Zunächst mag die Entscheidung, den Film als Musical umzusetzen, rätselhaft erscheinen, doch sie entpuppt sich als brillanter erzählerischer Kniff.

Ausgezeichnet wurde der Film mit dem Preis der Jury, gewissermaßen die Bronzemedaille in Cannes, und die vier Hauptdarsteller*innen bekamen kollektiv den Preis für die beste weibliche Darstellerleistung verliehen. Auch wenn in diesem Cannes-Jahrgang einmal mehr auf den Regiestühlen hauptsächlich Männer saßen, so waren es vor allem weibliche Hauptfiguren, die im Wettbewerb die Akzente setzten und deren Filme am Ende mit den meisten Preisen ausgezeichnet wurden. Von den vier Regisseurinnen im Wettbewerb erhielten immerhin zwei Hauptpreise: die Inderin Payal Kapadia wurde für »All We Imagine As Light« mit dem Großen Preis bedacht, Coralie Fargeat erhielt für das Drehbuch zu ihrem Horrorfilm »The Substance« ebenfalls eine Palme. Die drei wohl größten Namen des Wettbewerbs, Francis Ford Coppola, David Cronenberg und Paul Schrader, gingen dagegen bei der Preisverleihung (zurecht) leer aus. Immerhin konnten die drei Meister beweisen, dass ihnen auch im weit fortgeschrittenen Alter nicht die interessanten Ideen ausgehen.