Den Vögeln nachschauen
Ustad Noor Bakhsh hat kein Mobile und spricht kein Englisch. Er hat auch keinen Wikipedia-Eintrag, weder auf Englisch noch auf irgendeiner anderen Sprache. Die Plattform Discogs weist eine einzige Veröffentlichung von ihm aus. Er spielt ein Instrument, das hierzulande niemand kennt.
Das alles prädestinierte Musik und Musiker dazu, dem Entdeckerwahn hiesiger Hipster zum Opfer zu fallen. Haben wir also wieder was ausgegraben! Diesmal in Belutschistan, dem Süden Pakistans, wo Bakhsh, der das Balochi Benju spielt, den Status eines Meistermusikers besitzt. Das ist kein Popstar, sondern jemand, der auf Hochzeiten, Familien- und Dorffesten spielt und es versteht, mit seiner virtuos vorgetragenen Musik den festlichen Ritualen stets andere, raffinierte, spirituelle Nuancen abzugewinnen.
Einiges spricht aber dafür, dass Bakhshs Musik ihrer »Hipsterisierung« entgeht. Zwar gibt Bakhsh seit zwei Jahren Konzerte in Europa — und kommt jetzt erstmals nach Köln —, aber damit ist kein Aufbruch in eine postmoderne Pop-Welt verbunden: Er spielt die Musik, die er schon immer gespielt hat, es gibt keinerlei Konzessionen an Pop-Musik und Produktionsstandards, Kooperationen mit Promi-Musikern finden nicht statt, Interviews mit der Presse sind sehr selten. Bakhsh wird bald 80, da hat man andere Ambitionen.
Seiner Musik nähert man sich am besten über das Instrument: Das Benju ist eine Zither, deren Saiten über Tasten angeschlagen werden. Oder wie es in der Presse hieß: Es sieht aus wie eine Slide Guitar mit der Tastatur einer alten Schreibmaschine. Die linke Hand schlägt die Saiten an, die rechte setzt, über den Tastendruck, die Akkorde. Angeblich geht es auf ein japanisches Spielzeuginstrument namens Taishōgoto zurück, andere Quellen bestreiten dies. Fakt ist, dass es weltweit ähnlich konstruierte Instrumente gibt, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben. Aus dem deutsch-österreichischen Alpenraum kommt die Akkordolia, die nach dem gleichen Prinzip funktioniert. Die Schweden kennen die Nyckelharpa, die Tastenfidel, die mit Bogen gespielt wird, im benachbarten Indien ähnelt die Bulbultarang dem Benju.
Also ja, das Benju ist zwar hierzulande unbekannt, aber nicht sein Prinzip. Auch nicht seine Klangfarbe. Allein sie sorgt schon dafür, dass Bakhshs Musik eigenartig vertraut klingt.
Die eigenwillige Konstruktion ermöglicht eine schwebende, perlende, fein ziselierte Musik. Wir hören einige Melodietrauben, ganz kurze Themen und Motive, die sich einfach (Einfach?! Naja, wenn man das Instrument beherrscht…) und sehr schnell variieren lassen. Dadurch, dass die rechte Hand die Saiten unaufhörlich schwingen lässt, kann die linke einen wahren Wirbel an Tönen erzeugen, konzentriert um zwei, drei Grundtöne, die im Laufe des Spiels wechseln werden. Begleiten lässt Bakhsh sich von einem oder zwei Lautenspielern, die für harmonische und rhythmische Grundierung sorgen.
Schüchtern selbstbewusst vorgetragen — oder selbstbewusst schüchtern: wie diese Musik nur jemand vortragen kann, der, seit er denken kann, mit ihr vertraut ist
Daher das schwebende, perlende, auch kreiselnde der Musik — sie wirkt dem Alltag enthoben und lädt zur Versenkung ein, zum Tanz hinein in die Trance. Man kann sie durchaus als Tanzmusik interpretieren, so wie Bakhsh sie spielt, ist sie aber auch introvertiert oder meditativ. Schüchtern selbstbewusst vorgetragen — oder selbstbewusst schüchtern: wie diese Musik nur jemand vortragen kann, der, seit er denken kann, mit ihr vertraut ist. Und vertraut heißt: eingeordnet in eine traditionalistische Kultur, in der es zwischen den Musikern strenge Hierarchien gibt: Der in Belutschistan berühmte Sänger Sabzal Samgi arrangierte Bakhshs Hochzeit (da war er 16) und ließ sich von ihm begleiten — 30 Jahre lang.
Anfang 2022 war es der Musikethnologe Daniyal Ahmed, der sich, angestachelt von Erzählungen über einen sagenhaften Meistermusiker, auf die Suche nach ihm machte und ihn schließlich entdeckte. Bakhsh lebt in der Nähe der Megametropole Karatschi, würde er sagen. Tatsächlich bedeutet ein Besuch bei ihm eine über sechsstündige Autofahrt in die Provinz. Inspirieren lässt er sich von der Landschaft seiner Heimat, die er in und auswendig kennt und in der er, ewiges Schauspiel der Natur, immer neue Nuancen entdeckt. Vor allem aber sind es die Vögel, deren Flug er nachschaut und deren Gesang er für sich und sein Instrument übersetzt. Das ist (für ihn) ganz selbstverständlich, so wie seine Musik ganz selbstverständlich ist, weil sie nicht darauf angewiesen ist, entdeckt zu werden.