Sex als Seismograph
Zenos Gesicht ist wandelbar. Mal sieht es milchig und abwesend aus, dann geheimnisvoll. Die Augen können treuselig gucken, aber auch traurig. Sowieso ist Trauer ein Gefühlszustand, der einem in »30 Tage Lust« erstaunlich häufig begegnet. Denn das Experiment, das Zeno (Simon Steinhorst) und Freddy (Linda Blümchen) aus einer Laune heraus starten, bringt doch die ein oder anderen seelischen Probleme mit sich.
Acht Folgen lang gibt sich das Paar die gegenseitige Erlaubnis, mit anderen Menschen intim zu werden. Einzige Bedingungen: Die Details behält jeder für sich und niemand darf zweimal getroffen werden. Erdacht und Regie geführt haben bei der Serie Pia Hellenthal und Bartosz Grudziecki. Die Absolventin der Kölner Kunsthochschule für Medien Hellenthal ist keine Unbekannte — vor ein paar Jahren war ihr hybrider Dokumentarfilm »Searching Eva« über eine irrlichternde Künstlerin und Sexarbeiterin in den Kinos zu sehen. Jene Eva taucht auch in »30 Tage Lust« wieder auf, sie nennt sich nun Adam und wird eines Nachts von Freddy kontaktiert.
Das Seriencamp 2024 präsentiert mehrere Serien, die sich mit Sexualität und sexueller Selbstermächtigung auseinandersetzen. »30 Tage Lust« und »Bad Influencer« aus Deutschland, »Dates in Real Life« aus Norwegen und »Zorras« aus Spanien. Gemein ist ihnen allen, dass es nicht nur um Seh- und Sinnesfreuden geht — der Fokus auf Sex dient vielmehr als Seismograph, über den einiges zu erfahren ist, das sich sonst vielleicht umständlicher oder gar nicht erzählen ließe. Deutlich wird, wie zentral digitale Medien heute für die Anbahnung und Aufrechterhaltung sexueller Kontakte sind. Und wie Menschen den schier unendlichen Möglichkeiten körperlicher Selbsterfahrung begegnen.
An große internationale Formate wie »Euphoria« schließt dabei am ehesten »Dates in Real Life« an. In Sachen Look und Sound wird hier ein Zeitgeist beschworen, in dem die Grenzen zwischen online und offline längst verwischt sind, sich Alter Egos aus Online-Games wie selbstverständlich zu Wort melden und Fanfiction sich plötzlich materialisiert.
Im Zentrum steht die junge Norwegerin Ida (Gina Bernhoft Gorvell), die ihre Beziehung mit Marvin (Jacques Colimon) aus den USA rein virtuell aus ihrem technisch hochgerüsteten Zimmer führt. In einer Second-Life-artigen Simulation wohnen beide sogar im selben Haus, trinken Champagner im Sonnenuntergang und genießen Schokoladenkuchen. Virtual-Reality-Brillen verschaffen ein immersives Erlebnis, andere Gadgets regen sogar zu zärtlichem Austausch von Berührungen über tausende Kilometer an.
Trotzdem lockt, zumindest für Marvin, irgendwann die vermeintliche Wirklichkeit: die Dates im realen Leben. Verletzt zieht Ida nach und beginnt, nach echten Küssen zu suchen. Eine Gruppe von Online-Freunden steht ihr dabei zur Seite. »Dates in Real Life« verwirbelt wie selbstverständlich Pixel und Realbild, Ida wird mutiger und stürzt sich vor allem ins Nachtleben. Da sitzt sie nun, blass und zugleich schillernd zurechtgemacht, während »Good Lies« von Overmono läuft und den Blick in einen Club freigibt. Ein guter Moment, der jene Sekunden einfängt, bevor etwas passiert. Sowieso ist es diese Erregungskurve, mit der in den Serien gespielt wird, allen voran in »30 Tage Lust«.
Hier verblüffen besonders die Frequenz und Heftigkeit, mit der Freddy und Zeno in das Datingleben eintauchen. Fast scheint es, als hätten sich in den über zehn Jahren gemeinsamer Monogamie — beide sind knapp dreißig und seit Schulzeiten liiert — Energien angestaut, die sich binnen eines Monats unbedingt entladen wollen. Stuttgart wird zum Sündenpfuhl, ein Reigen von Dates und Partys. Das ist natürlich überspitzt, aber unterhaltsam und schnell. Besonders der Kölner Simon Steinhorst, der 2016 seinen ersten großen Auftritt als unvermittelbarer Schildkrötenliebhaber Robin in Jan Böhmermanns »Verafake« hatte, überzeugt. Sein Changieren zwischen routiniertem Boyfriend und jemandem, der sich auch mal aus der Straßenbahn heraus auf ein Abenteuer einlässt, sorgt für interessante Unberechenbarkeit. Freddy hingegen geht direkt aufs Ganze, sucht zuverlässig nach den ultimativen Kicks.
Stuttgart wird zum Sündenpfuhl, ein Reigen von Dates und Partys
Möchte man eine Weisheit aus dem kleinen Serien-Strauß ziehen, dann, dass sich alte und neue Gewohnheiten nur bedingt miteinander vertragen, der Clash ist programmiert. Auch in »Zorras« muss sich Alicia (Andrea Ros) erstmal von ihrem behäbigen Freund und dem Nest an der Costa Brava verabschieden, um in Madrid jenen Kinks nachzugehen, von denen sie schon so lange fantasiert. »Zorras« setzt auf Schauwerte, schon in der ersten Folge kann man Alicia als hängendes Bondage-Kunstwerk bestaunen. Das ist ein wenig flach, aber in der richtigen Stimmung vergnüglich. Insgesamt arbeiten alle Produktionen mit den Versprechungen und Gefahren, die eine Öffnung hin zum Unbekannten — sei es das »reale« Leben, Sex-Experimente oder die große Stadt —, mit sich bringen. Revolutionierende Selbsterfahrung und große Tristesse liegen dabei in unmittelbarer Nachbarschaft.
Apropos Nachbarschaft — in Köln sind in diesen Wochen Plakate einer Casual-Dating-Plattform zu sehen. Wer mit dem Gedanken einer Anmeldung liebäugelt, kann im Rahmen des Seriencamps zumindest einige fiktionale Erfahrungsberichte beziehen. Für alle anderen gilt: Kompensation und Leinwand-Eskapismus sind nicht das Schlechteste.
Seriencamp
Bei Camp denkt man an Ferien und Zeltlager, damit hat das im vergangenen Jahr von München nach Köln um-gezogene Festival mit angeschlossener Konferenz nichts zu tun. Ein wenig erinnert die 2015 gegründete Veranstaltung an die ehemalige Cologne Conference, mittlerweile Film Festival Cologne, die auch mal als Mischung aus Talks und Vorführungen von TV-Highlights begonnen hat — und bei deren Namen viele Kölner*innen lange Zeit auch nicht genau wussten, was sie erwartet.
Das Seriencamp bietet nicht nur Programm für Fachbesucher*innen, sondern auch für ein breites Publikum: Mehr als 30 Serien zeigt das Festival auf der großen Leinwand des Cinenova — oder zumindest deren erste Folgen. Darunter ist mit »Rematch« einer der Gewinner des diesjährigen Series-Mania-Festivals in Lille. Erzählt wird die Geschichte hinter den Schachpartien, die Weltmeister Gary Kasparow 1996/97 gegen den Schachcomputer Deep Blue spielte, als eine Art Psychothriller. Wer es eher mainstreamig mag, für den gibt es die neueste Disney-Serie aus dem »Star Wars«-Universum. In »The Acolyte« bekommt es eine junge Sith-Schülerin mehr als hundert Jahre vor den Ereignissen von »Die dunkle Bedrohung« mit einer Mordserie unter Jedi zu tun.
Infos: seriencamp.tv