Dollarzeichen aus der Schreibmaschine
Herr Herzogenrath, in einem Text über Stefan Wewerka, schreiben Sie: »Ein großer Künstler verändert unsere Sicht auf die Welt, auf die Dinge«. Jetzt feiern wir mit dem vorliegenden Buch »Gastgeschenke — Kunst und Texte seit 1966« nicht nur 80 Jahre Wulf Herzogenrath, sondern auch fast 60 Jahre Kunstgeschichte, die durch Sie geprägt wurden. Welche*r Künstler*in hat in diesen sechs Dekaden Ihres Erachtens die Sicht auf unsere Welt am meisten verändert?
Das ist natürlich eine schwierige Frage; so wie ein Vater nicht gefragt werden will, wer sein Lieblingskind ist. Aber ich würde schon sagen, ein John Cage ist in der Nachfolge von unseren beiden Helden des 20. Jahrhunderts, Pablo Picasso und Marcel Duchamp, so eine Art Gallionsfigur. Einer, der durch sein Wesen und durch sein Werk ein Vorbild und Anreger für das 21. Jahrhundert war.
Als sie 1973 im Kölnischen Kunstverein die Stelle des Direktors übernahmen, da war Köln noch keine Kunst- und Künstlerstadt …
Da muss ich unterbrechen: Köln war schon eine Kunststadt, der Kunstmarkt hatte schon seine Rolle eingenommen. Aber es waren keine Künstler*innen hier. Ob ein Hubert Berke, ein Georg Meistermann oder ein Hann Trier, die berühmten Künstler waren alle woanders Professoren. Bernhard Schulze war der Erste, der hier hinzog und gefeiert wurde. Er machte den Jüngeren Mut, nach Köln zu kommen, wie der Erfolg des »Kunstmarkt« des Galeriehauses der Vowinkels zeigt. Und dann brachte er diese junge Generation mit: Michael Buthe, Rune Mields, die nach Köln zogen und dann so eine Art Künstlerbegegnungsort im Exil und in den Kneipen begannen. Es war, so brutal es klingt, für alle positiv, dass die Kölner Werkschulen eigentlich keine Bedeutung hatten. Es gab nicht dieses Ranggefühl wie in Düsseldorf: »Ich bin Schüler von …«. Hier waren ein Sigmar Polke, ein Theo Lambertin, eine Rune Mields erstmal relativ gleichmäßig weit unten. Ich habe das später in den Ausstellungen »Fünf in Köln« und »Acht in Köln« einbezogen — diesen Querschnitt durch die äußerst heterogene Szene. In seiner Unterschiedlichkeit war Köln ganz weit vorne.
Also würden Sie sagen, dass der Kunstverein zu diesem Aufstieg Kölns zur Kunststadt beigetragen hat?
Wenn Sie das sagen, freut mich das natürlich! Ich glaube, dass der Kunstverein deshalb das Vertrauen der Bürger*innen hatte, weil ich eben keine einseitige Linie verfolgte. Es gab »Köln Dada«, was interessanterweise im Museum Ludwig gar nicht vorkam, weil das so lokal schien, und die Progressiven der 1920er Jahre, also die politisch-engagierten Künstler*innen. Von beiden habe ich große Einzelausstellungen gemacht. Und vor diesem Hintergrund, »Ach, der ist ja interessiert an wahrer Kunstgeschichte«, hat man mir dann eher abgenommen, wenn ich so etwas Komisches wie amerikanisch-koreanische Videokunst zeigte. Kurz vorher, bei der Happening & Fluxus-Ausstellung, sind 300 Leute aus dem Kunstverein ausgetreten, dafür kamen aber 250 engagierte, jüngere, nach. Die sagten: Ja so muss der Kunstverein sein! Man muss was bewegen und das kann auch mal ein bisschen schräg sein.
Sie haben 1980 die »Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine« (ADKV) mitbegründet. Denken Sie, dass die Kunstvereine, zwar nicht ihre Bedeutung verloren haben, aber mittlerweile eine andere Bedeutung und Funktion im Stadtgeschehen innehaben?
Die Kunstvereine müssen sich neu definieren, wenn sie in den Großstädten ihre Funktion gegenüber den sich avantgardistisch gebärdenden Museen behalten wollen. Wir wollen nicht ablehnen, dass die Museen sich wandeln, aber das macht den Kunstvereinen Schwierigkeiten, die Position genauer zu bestimmen und dabei immer etwas progressiver zu sein. Das können auch die Entdeckung und Aufarbeitung von übersehenen Positionen der Vergangenheit sein, bei mir neben »Köln Dada« und den Progressiven auch Künstlerinnen wie Angelika Hoerle, die damals zum ersten Mal im Kunstverein ausstellte.
Die Kunstvereine müssen sich neu definieren, wenn sie in den Großstädten ihre Funktion gegenüber den sich avantgardistisch gebärdenden Museen behalten wollen Wulf Herzogenrath
Die klassische Erzählung in Köln lautet, dass die Bedeutung des Kunstvereins in Köln abgenommen habe, als man im Zuge des Kunsthallen-Abrisses in »Die Brücke« umziehen musste. So wie es bei Ihnen anklingt, könnte die Ernennung eines Kasper König zum Direktor des Museum Ludwig, der mit seinen Kontakten unter anderem das auf die Beine stellte, was man heute Blockbuster-Ausstellung nennt — und damit dem Kunstverein das Wasser abgrub — mindestens genauso viel Wirkung entfaltet haben.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es damals eine Modernisierung des Museums durch den Direktor und ein Zugriff auf Felder, die man eigentlich eher einem Kunstverein zutrauen würde, gegeben hat. Ich glaube nicht, dass das mit dem Ort zu tun hat, denn auch in meiner Zeit nützte es mir gar nichts, wenn in der Kunsthalle — das ist mein Super-Beispiel — die große Ernst-Barlach-Ausstellung war, wo wirklich viele Menschen hinpilgerten, und ich stellte zeitgleich den 15 Jahre jüngeren László Moholny-Nagy im Kunstverein aus. Da schauten die Leute bei uns rein und sagten: »Ach nee, diesen modernen Quatsch will ich gar nicht sehen!« Diesen Konstruktivismus, dieses Technoide, Moderne, das will der, der zu Barlach geht, gar nicht angucken. Dann nützt es gar nicht, dass man im selben Gebäude ist. Es ist der Inhalt, der die Menschen anzieht!
Jetzt zu Ihrem »Gästebuch«. Wie kam die Auswahl zustande?
Das hat sich allein über die Texte, die ich über Künstler*innen im Laufe der Jahre geschrieben habe, ergeben. Ausschließlich zu diesen sind die entsprechenden Gästebucheinträge abgedruckt. Und das dann chronologisch; das Buch beginnt ja mit meiner Zeit im Bielefelder Kunsthaus. Und dann gibt es Fälle, wie den von Ingo Günther zum Beispiel, Schüler von Joseph Beuys und Nam June Paik. Toller Mann, aber ich habe nie über ihn geschrieben. Der ist in den Gästebüchern fünf-, sechsmal mindestens drin, aber er taucht jetzt nicht im Buch auf — ich habe mich bei ihm entschuldigt.
Es sind 3500 Beiträge, die in Ihren Gästebüchern verewigt sind. Als Sie diese durchblätterten, haben Sie da auch Künstler*innen wiederentdeckt, die Sie selbst vergessen hatten?
Gab es diesen Moment: »Oh, das ist ein richtiger Schatz, der sich da verbirgt«? Ja, der Künstler auf dem Rückumschlag: Jiří Dokoupil von der Mülheimer Freiheit. Der kam als 26-jähriger Student, hat mir seine Sachen gezeigt. Er wollte ein Stipendium und brauchte dafür ein Gutachten. Da sagte ich: Prima, mache ich, aber Sie müssen etwas in mein Gästebuch zeichnen. So sitze ich auf seiner Zeichnung, tippe auf der Schreibmaschine und raus kommen Dollarzeichen. Dokoupil ist einer, den ich früh gefördert, aber dann nicht mehr wirklich verfolgt habe.
Spätestens ab 1980 ging es in Köln richtig los. Es kamen die biblischen »Sieben fetten Jahre«, als Köln sich mit New York messen konnte. Sie verließen die Stadt 1989 Richtung Berlin, gingen an die Neue Nationalgalerie, dann kam Bremen. Haben Sie versucht, das Gleichgewicht zwischen diesen drei großen prägenden Städten aufrecht zu erhalten — oder ist das ein bisschen intuitiver gelaufen?
Ich glaube, es ist intuitiver gewesen. Es sind natürlich ein paar Künstlerfiguren wie Cage oder Paik, die mich in alle drei Städte begleitet haben. Die sind sehr präsent — weil ich sie so wichtig finde. Dass ich die Kunsthalle Bremen, die eher ein konservatives Haus war und da auch ihre Stärken hat — mit ihren 400.000 Arbeiten im Kupferstichkabinett —, dann aber an die Moderne, an die Gegenwart herangeführt habe, ist für meine Nachfolger*innen und kommende Entwicklungen sicher hilfreich gewesen.
Sie haben schon Paik erwähnt, da möchten wir eine Brücke bauen, nämlich zum nächsten Block: Videokunst. 1976 luden sie Paik für seine erste institutionelle Einzelausstellung in Europa ein. Paik war zu dem Zeitpunkt schon länger im Rheinland verwurzelt. 1963 hatte er erstmalig in der Wuppertaler Galerie Parnass ausgestellt. Aber zur institutionellen Anerkennung war es noch ein weiter Weg. Er war immerhin schon Mitte 40 bei der Ausstellung im Kunstverein. Hatte das etwas mit dem Misstrauen gegenüber der Videokunst zu tun?
Ja. 1963 ist, wenn man so will, die Geburt der Videokunst. Sie war technisch neu: sie beinhaltete Klang, was für die Ausstellungsmacher*innen immer ein Problem darstellt, und war noch nicht für den Dauerbetrieb gemacht. Es gab technische Fragen, die erst praktisch gelöst werden mussten. So gesehen waren zwei, drei Galerien, wie Gerry Schum, wie Rolf Ricke, die Pioniere des Ausstellens. Was Gerry Schum als Medien-Vorstellung präsentierte, war eine bestimmte Stil-Vorstellung: Fast ohne Schnitte, ein Durchlauf, eine Beschränkung auf Schwarz-Weiß, ein Verzicht auf zusätzlichen Ton und überhaupt kaum Narration. Er bevorzugte die Nüchternheit der Werke der Künstler*innen der Land Art oder Konzeptkunst.
Es war, so brutal es klingt, für alle positiv, dass die Kölner Werkschulen eigentlich keine Bedeutung hatten. Es gab nicht dieses Ranggefühl wie in DüsseldorfWulf Herzogenrath
Wie schätzen Sie die Rolle der Frauen in der Videokunst ein? Künstlerinnen wie Ulrike Rosenbach oder VALIE EXPORT entdeckten Video früh für sich. Kann es sein, dass die Frauen eine Lücke für sich gesehen haben, in einer Gattung, die noch keine Geschlechterzuschreibungen erlebt hatte?
Das war immer ein Argument bei Ulrike Rosenbach, dass es ein »nicht-besetztes Feld« ist — so hat sie das damals formuliert. Ich persönlich kann nur immer stolz erzählen, dass wir auf der Documenta 6 eine Hälfte Frauen, eine Hälfte Männer in der Videoabteilung hatten.Es gab damals die Auffassung, dass Videokunst vor allem ein Medium war, um Performancekunst zu dokumentieren. Zu den Vertreter*innen dieses Strangs gehörten Marina Abramovic und Ulay oder auch Chris Burden, der mit seiner Body Art — vor allen Dingen mit dem Video »Shoot«, in dem er sich von einem Freund mit einem Revolver in den Arm schießen lässt — das begonnen hat, was heute als »Videokunst« gilt, was jedoch zunächst einen vornehmlich dokumentarischen Wert hatte. Wie haben Sie das gesehen? Das ist eine wichtige Frage, da wir in Deutschland durch die Leistung Gerry Schums auf dessen eben schon skizzierte Stilvorstellung konzentriert waren. Es war für mich eine Überraschung, als ich Anfang 1974 nach Amerika ging, um mich zu informieren, was es dort gibt. Da habe ich Paik und seine Werke gesehen und habe dort ein vollkommen anderes Videobild wahrgenommen: Nämlich Farbe, spielerisch, mit Musik, mit Selbstmachen und Selbstdrehen. Also im Grunde das genaue Gegenteil von dem, was Gerry Schum hier als Videokunst gezeigt hatte.
Sie waren auch Kustos der Nationalgalerie in Berlin, jemand der kulturpolitisch aktiv war. Mit dem verwandten Begriff des Kurators deckt man aber immer nur einen Anteil ihrer Tätigkeit ab. Welchen Titel haben sie am liebsten getragen oder wie stellten sie sich vor, wenn sie sich mal vorstellen mussten?
Da habe ich eher »Kunsthistoriker« gesagt, was für den Kunstverein wie für das Museum eine prägende Grundlage ist. Je 17 Jahre konnte ich das Ausstellungsprogramm im Kölnischen Kunstverein und die Ausstellungen und Ankäufe für die Kunsthalle Bremen bestimmen. Diese Arbeit wird sichtbar in meinen Texten, die auf Vermittlung zum Publikum zielen und in meinem neuen Buch zusammen mit über 150 Kunstwerken, die erstmalig veröffentlicht werden, abgedruckt sind: von Cindy Sherman und den Bechers über Nam June Paik, Bill Viola bis hin zu Gerhard Richter und Sigmar Polke.
Wulf Herzogenrath geboren 1944 in Rathenow, promovierte 1970 über Wandbilder Oskar Schlemmers und galt bereits in jungen Jahren als Experte für das Bauhaus. 1973 wurde er zum Direktor des Kölnischen Kunstvereins berufen und leitete diesen bis 1989. Während dieser Jahre war er einer der Pioniere und größten Förderer der deutschen, europäischen und amerikanischen Videokunst. Seit 1966 sammelt er Unterschriften, Texte, Skizzen, Bilder von Künstler*innen in sogenannten Gästebüchern.
Buch: Wulf Herzogenrath, »Gastgeschenke — Kunst und Texte seit 1966«; Alexander Verlag, 672 Seiten, 48 Euro