Erzählt anstatt zu erklären: Dana Vowinckel

Eine ganz normale ­Familie

Dana Vowinckel erzählt in »Gewässer im Ziplock« vom Aufwachsen in einer jüdischen Familie

Alle Familien sind psychotisch. So schrieb es der Autor Douglas Coupland schon vor ein paar Jahren auf einen Buchdeckel. Für die Familie in Dana Vowinckels Debütroman »Gewässer im Ziplock« gilt es im besonderen Maße. Aber wie sollte es auch anders sein — als Juden in Deutschland?


Die 15-jährige Margarita lebt mit ihrem Vater Avi in Berlin, wo dieser als Kantor in der Synagogengemeinde arbeitet. In der Religion hat Avi einen Halt gefunden, den er im Leben nicht erreichen konnte. Margarita dagegen ist ein ziemlich normaler Teenager: mal selbstbewusst und mutig, mal unsicher und besorgt um die eigene Liebeswertigkeit — und immer wieder befremdet von den Interaktionen der Erwachsenen mit ihr und untereinander. Ihr Körper ist ständig krank, in vielen Details beschreibt Vowinckel die Symptome zwischen Fieber, Ausflüssen und Entzündungen, die sich besonders dann einstellen, wenn sie nicht in ihrem geliebten Berlin sein kann. »Ani Germanit« — ich bin Deutsche —, sagt sie beim ­Anflug auf Israel zu ihrem Sitznachbarn. Dort besucht sie ihre Mutter Marsha, die die Familie vor 13 Jahren verlassen hat und an die sich Margarita nicht erinnert. Marsha forscht dort als Linguistin und ­genießt die Freuden eine ­Stipendiums: Schreiben ohne Verpflichtungen, also viele Gelegenheiten, um etwas Zeit mit der Tochter zu verbringen.
In dieser Situation offenbart Marsha ihr ein Geheimnis, von dem Margarita glaubt, dass es die Familie für immer auseinanderbringen könnte: Ihre amerikanische Großmutter ist eine adoptierte Katholikin und nach den Regeln der Halacha somit keine Jüdin. Geschickt schreibt Vowinckel die Debatte um Matrilinearität, die im Sommer 2021 in Deutschland offen ausgetragen wurde, in ihr Debüt hinein. Die ­besondere Qualität von »Gewässer im Ziplock« ist jedoch, dass Vowinckel ihre Themen nicht »verhandelt«, sondern erzählt. Ihre ­Figuren sind keine Vehikel für Thesen zu jüdischer Identität in Deutschland, sondern widersprüchliche Figuren, die nach individuellem Glück, Liebe und ­Zufriedenheit suchen und in diesem Suchen von Vowinckel mit großer Menschlichkeit gezeichnet werden. Das war bei Erscheinen des Buchs im Herbst schon außergewöhnlich, seit dem 7. Oktober ist es jedoch zur Notwendigkeit geworden.


Dana Vowinckel: »Gewässer im Ziplock«, Suhrkamp, 362 Seiten, 23 Euro

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