»Wir müssen das auch mal visionär betrachten«: KVB-Haltestelle am Neumarkt

Das kölsche Zahlen-Wunder

Eigentlich sollte im Sommer entschieden werden, ob in der Innenstadt ein neuer ­U-Bahn-Tunnel gebaut wird. Doch die Politik blickt nicht mehr durch

»Wollen wir europäische Metropole sein oder deutsche Provinz?«, fragte OB Henriette Reker Ende Mai im Rathaus. Metropole bedeute, einen Tunnel auf der überlasteten Ost-West-Achse zwischen Heumarkt und Aachener Weiher zu graben. Sie wünsche sich »etwas mehr Zutrauen«, sagte Reker, und erhielt sogleich Zustimmung vom Baudezernenten Markus Greitemann und KVB-Chefin Stefanie Haaks, mit denen Reker die Verwaltungsvorlage für den Ausbau vorstellte. Allein Verkehrsdezernent Ascan Egerer, der die Vorlage verantwortet, wollte sich nicht ­äußern, wie er zum Tunnel stehe. »Wir haben nun eine sachliche Grundlage, auf der die Politiker entscheiden können«, so Egerer.

Weil die KVB-Linie 1 überlastet ist, sollen in jedem Fall künftig Züge mit einer Länge von 90 statt 60 Metern fahren. Uneins ist man sich im Rat nur, ob die Bahnen in der linksrheinischen Innenstadt unterirdisch fahren sollen. Die CDU ist für den Tunnel, ihr grüner Bündnispartner für den oberirdischen Ausbau. Daher ließ man beide Varianten prüfen. Jetzt, wo das Ergebnis vorliegt, könnte der Rat am 27. Juni entscheiden — doch dazu wird es wohl nicht kommen. Ein Gutachterbüro hatte den volkswirtschaftlichen Nutzen und die Kosten beider Varianten gegenübergestellt. Um Förder­mittel vom Bund zu bekommen, muss der Wert höher als 1 liegen. Laut Vorlage schneidet der Tunnel mit 1,4 besser ab als der oberirdische Ausbau mit 1,3. Dabei sah die Schätzung von 2018 noch anders aus: Der Tunnel war mit 1,0 nur knapp förderfähig gegenüber der oberirdischen Variante mit einem Wert von 2,3. Ein »kölsches Wunder«, spotten Tunnelgegner. Wie die neuen Zahlen zustande kamen, ist unklar, das Gutachten ist bislang nicht veröffentlicht. Man arbeite noch am »Abschlussbericht der standardisierten Bewertung, der unter anderem die Eingangsdaten ausführlich darlegt«, so ein Stadtsprecher.

»Ohne Kosten-Nutzen-Analyse werden wir nicht entscheiden«, sagt Lukas Lorenz, verkehrspolitischer Sprecher der SPD. Es liegt nicht zuletzt an seiner Fraktion, dass bislang keine Mehrheit im Rat zustande kam. »Dass die SPD nach einer besseren Lösung sucht, hat bisher Schlimmeres verhindert«, findet Lorenz, der auch Mitarbeiter der KVB ist. »Sonst würde jetzt vielleicht viel Geld vergraben ohne Kapazitätserhöhung«, so Lorenz weiter.

Köln wird nicht durch einen zwei Kilometer langen Tunnel zur Metropole, sondern mit einer echten Verkehrswende
Lino Hammer, Grüne

Die SPD ist in der Frage zerstritten, doch niemand lehne ­einen Tunnel grundsätzlich ab. »Es kann aber nicht bloß um zwei Kilometer gehen.« Die SPD hegt Hoffnungen, dass ihr ursprünglicher Favorit — ein langer Tunnel unter dem Rhein hindurch bis nach Deutz — wieder ins Gespräch kommt. Die andere Lösung wäre für Lorenz eine geänderte oberirdische Variante: »Dann muss die Verwaltung den klaren Auftrag ­bekommen, wie eine echte Kapazitätssteigerung auf einer zweiten Achse aussehen könnte.«

Auch Volt, die im Rat mit Grünen und CDU ein Bündnis bilden, positionieren sich bislang nicht. Zwar hat sich die Partei im vergangenen Jahr für die oberirdische Variante ausgesprochen, doch ­daran sei die Fraktion nicht gebunden, so Ratsmitglied Isabella Venturini. Die Beschlussvorlagen würden Fragen aufwerfen, etwa, warum der Kosten-Nutzen-Indikator beider Varianten so nah ­beieinander liege, obwohl die oberirdische Variante 2018 deutlich besser abgeschnitten habe. Auch der 33 Positionen umfassende Kriterienkatalog, den Verwaltung und Politik zusammengetragen haben und den die Parteien nun selbst gewichten müssen, hinterlässt Klärungsbedarf bei Volt: »Wie kann es sein, dass die Kosten darin überhaupt keine Rolle spielen?«, fragt Venturini. Zudem seien beide Varianten »keine optimale Lösung für die nächsten 50 Jahre.«

Sogar CDU und FDP als Tunnelbefürworter sind mit der jetzigen unterirdischen Variante nun unzufrieden und sprechen von »großen Lösungen«, um die SPD an Bord zu holen. Er sei »geradezu elektrisiert« davon, dass die U-Bahn einen so hohen Kosten-­Nutzen-Faktor aufweise, so der FDP-Fraktionsvorsitzende Ralph Sterck. Deshalb will seine Fraktion prüfen lassen, ob man den Tunnel nicht doch bis nach Melaten führen könne. Statt das Mauritiusviertel zu untertunneln, soll die Linie 9 über Rudolfplatz und Aachener Straße bis zur Universitätsstraße führen, wo sie nach Sülz abzweigt. »Damals haben wir nicht für den längeren Tunnel gekämpft, weil er als nicht förderfähig galt«, sagt Sterck. »Jetzt ­können wir uns das trauen.«

»Charmant« findet Teresa De Bellis (CDU) diesen Vorschlag, ebenso wie die SPD-Idee eines Rheintunnels. »Wir müssen das auch mal visionär betrachten:

Wie kann es mit der Ost-West-Achse in Zukunft weitergehen?« Die CDU stellte neulich auch Pläne vor, den Innenstadttunnel der Linie 18 und den Ringtunnel zu verlängern, um den Barbarossaplatz neu zu gestalten.
Kommt also der U-Bahn-­Tunnel — und noch länger als bislang geplant? Die Grünen, stärkste Kraft im Rat, geben sich gelassen. »Metropole wird Köln nicht durch einen zwei Kilometer langen ­Tunnel, sondern mit einer echten Verkehrswende«, sagt Fraktionsgeschäftsführer Lino Hammer.

An ihrer Seite haben sie die Linke, Klimafreunde und Gut. Für die oberirdische Variante sprechen aus ihrer Sicht »alle sachorientierten Argumente«: Sie sei deutlich billiger, risikoärmer, schneller, barrierefreier, klimafreundlicher und mit deutlich weniger Belastungen für die 100.000 Anwohner in der Innenstadt verbunden. Die prognostizierten vier Minuten Zeitersparnis bei der Tunnelvariante würden durch längere Zugangszeiten in die Tiefebene wieder verpuffen, sagt Hammer. Die Stadt bestätigt, dass bei der Zugangszeit die oberirdische Alternative besser abschneidet — Zugangs- und Fahrzeit wurden offenbar nicht kombiniert betrachtet.

Die geschätzten 1,06 Mrd. Euro für den Tunnel könne sich Köln — im Gegensatz zu 193 Mio. Euro für den oberirdischen Ausbau — nicht leisten, sagt Hammer. »Mit dem Tunnel stockt die Verkehrswende, weil er alle finanziellen und personellen Ressourcen bindet.« Bis zu 85 Prozent der Tunnelkosten könnten gefördert werden, bei der oberirdischen Variante sind es 77 Prozent. Wenn aber die Kosten steigen, steigen nicht automatisch auch die Fördermittel. Der Eigenanteil der Stadt könne sich massiv erhöhen, warnt Hammer – und verweist darauf, was das bei einem U-Bahnbau mit all den Unwägbarkeiten bedeuten könnte. »Man sieht das an der Nord-Süd-Bahn«, so Hammer. Dort ist der Eigenanteil für die erste Baustufe von geschätzten 55 Mio. auf über eine Milliarde gestiegen.

»Die Stadt muss allein 120 Mio. Euro an Kreditzinsen zahlen, um die 15,5 Prozent Eigenanteil für den Tunnel aufzubringen«, ­erläutert Lino Hammer. Sollte die Förderung für den Tunnel doch geringer ausfallen und die Zinssätze steigen, könnten allein die Kreditzinsen auf mehrere hundert Mio. Euro ansteigen, prognostiziert man bei den Grünen. Und im Grüngürtel gegenüber vom Aachener Weiher könnten laut Verwaltungsvorlage jahrelang Baustelleneinrichtungen ­unterkommen.

Die Entscheidung wird frühestens in der Ratssitzung am 1. Oktober getroffen. Nun also wartet man im Rathaus auf das Gutachten. Hammers Eindruck: »Je mehr sich die Leute mit dem Thema beschäftigen, desto mehr wächst die Skepsis.« Erst jetzt dringe auch ins Bewusstsein, ­welche Belastungen die Tunnelbaustelle für die Innenstadt ­bedeuten würde.

Darum geht’s
Der oberirdische Ausbau der Ost-West-Achse soll nach jetzigem Stand 193 Mio. Euro kosten, ein Tunnel 1,06 Mrd. Euro. Bei der unterirdischen Variante müssen 2,7 Kilometer Bohrtunnel vom Heumarkt bis zur Universitätsstraße, 800 Meter Rampenbauwerke und drei neue unterirdische Haltestellen errichtet werden, die Bauzeit wird auf zehn bis zwölf Jahre geschätzt. Die oberirdische Variante benötigt schätzungsweise drei bis vier Jahre, dafür würden die Haltestellen Heumarkt, Neumarkt, Rudolfplatz und Moltkestraße für den Einsatz von 90-Meter-Stadtbahnzügen verlängert. Bei beiden Varianten soll der Stadtraum aufgewertet werden und Autospuren zugunsten breiterer Geh- und Radwege wegfallen. (aa/am)