Leistungsschau der Lebensmittelchemie: Chips im Supermarkt

Kicken, Knistern, Knacken

Chips gehören zur Fußball-EM wie die Angst vor dem Vorrundenaus. Warum eigentlich?

Läuft Fußball im Fernsehen, knistert es — nicht unbedingt vor Spannung, sondern wegen all der Chips. Während der großen Turniere im TV zieht der ohnehin hohe Umsatz kräftig an.

Die beliebteste Geschmacksrichtung hierzulande ist seit ewigen Zeiten »ungarisch«, was Paprikapulver bedeutet. Der heutige Markführer brachte das Produkt bereits 1968 auf den Markt. Die Küche Ungarns galt damals als aufregend, man denke nur an Gulasch und den damals so beliebten Pusztasalat. Salz-Chips favorisiert man heute hingegen in Skandinavien und Großbritannien, wo zudem das Aroma von Essig beliebt ist. Solche regionalen Vorlieben erklären aber nicht die große Palette von Chips in unseren Supermärkten: so viele Regalmeter mit immer neuen Produkten in teils absonderlichen Geschmacksrichtungen. Verfeinerung ist offenbar kein Privileg von Gourmets. Auch über die Vorzüge von »Currywurst-Style« gegenüber »Chakalaka« lässt sich fachsimpeln.

Die Vielzahl der aromatischen Zusätze ist Leistungsschau der Lebensmittelchemie. Und kaum lässt sich noch das Aroma einer Kartoffel orten.

Die Vielfalt der aromatischen Ausrichtung ist dabei ein Trend, der sich nicht nur bei Chips, sondern längst in allen Bereichen von Junkfood zeigt: Es wird gewissermaßen veredelt, mit Aromen, die man mit angesagten Küchenrichtungen verbindet. Zu denen zählte eine Zeitlang Südamerika, heute sind es eher die Levante oder Südostasien.

Zugleich wird Junkfood der gerade geltenden Auffassung eines guten Ernährungsstils angepasst. So setzte man früher Süßwaren Vitamine oder die berüchtigte »Extraportion Milch« zu; heute sind es vegane Varianten, Verzicht auf Palmöl, Glutenfreiheit oder »Kartoffeln aus Deutschland«, die ernährungsphysiologischen Ramsch zeitgeistig erscheinen lassen. Dann darf auch nicht fehlen, dass sich die Hersteller angeblich um die Verringerung von Plastikmüll bemühen.

Verfeinerung ist kein Privileg von Gourmets. Auch über die Vorzüge von ›Currywurst-Style‹ gegenüber ›Chakalaka‹ lässt sich fachsimpeln

Chips sind nicht denkbar ohne die knisternde Tüte. Zwar haben sich sogenannte Stapelchips in Pappdosen etabliert, aber die Chipstüte bleibt Norm. Forscher wollen gar festgestellt haben, dass deren Knistern dem Verbraucher Frische signalisiere. Und so widmen sich auch Akustiker dem Knabberramsch. Es muss knistern, auf eine ganz spezielle, chips­typische Weise. Doch man darf es nicht übertreiben: Vor anderthalb Jahrzehnten raschelte die ökologisch vorbildliche, kompostierbare Tüte eines kanadischen Herstellers mit sage und schreibe 90 Dezibel — es kam zu drastischen Umsatzeinbußen. Stapelchips-Esser schonen also immerhin ein wenig ihr Gehör, wenn auch nicht ihre Gesundheit.

Und ob man nun Chips aus Kartoffeln verputzt oder aus Linsen, Roter Bete oder Mais, macht ernährungsphysiologisch keinen Unterschied: zu viel Salz, zu viel Fett, und so viel Aroma, dass man erstens nicht aufhören kann und zweitens ständig mit Getränken nachspült. So tauchen dann Chips und Bier immer zusammen auf dem Sofatisch auf. Wer würde sich schon das Fußballspiel seines Lieblingsteams mit facettenreichen Gerichten und Getränken anschauen?

Die aufmunternden Rats­chläge, wie man bessere Chips — schmackhafter, gesünder und oft günstiger — im Backofen herstellt, verfangen ohnehin kaum. Offenbar auch, weil es den meisten Chipsessern gar nicht um ein hochwertiges Produkt geht, sondern um genau diesen einen hoch artifiziellen, auftrumpfenden Geschmack aus industrieller Produktion. Stimmt es also, dass Menschen, die regelmäßig Chips essen, gar kein sonderlich leidenschaft­liches Verhältnis zu guter Küche haben? Nicht unbedingt. Selbst Köche in Sterne-Restaurants berichten, dass sie sich mit einer Tüte Chips vor den Fernseher setzen. Hat womöglich das Chipsessen weder etwas mit Sättigung noch Genuss zu tun? Zumindest nicht vorrangig. Gerade unter Spannung dominiert beim Essen das taktile Moment im Mund. So wie mancher nervös an Gegenständen nestelt, sich auf die Lippen beißt oder die Hände knetet, so braucht offenbar auch das Gebiss etwas zu tun, um Stress abzuführen: das Zerbeißen mit lautem Knacken. Die Zerstörung der absichtlich schlecht zu öffnenden Chipstüte und das Zerkauen und Zerbeißen des Inhalts machen ­neben dem aromatischen Theater­donner den Reiz von Chips aus. Und auch nach einem langweiligen 0:0 sind die Tüten leer. Die Chipshersteller gewinnen immer.