Mülheimer Theaterpreis 2024: Sivan Ben Yishai, Foto: Daniela Motzkus

Aus einer Frage werden viele

Sivan Ben Yishai wurde für »Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert« mit dem Mülheimer Theaterpreis ausgezeichnet. Ein Gespräch mit der israelische Dramaturgin und Regisseurin

Sivan, wie hast du zum Schreiben gefunden?

Das Regieführen war meine Schreibausbildung. Mit 20 war ich noch nicht bereit zu schreiben, mit 37 aber schon — nach 17 Jahren Theater. Mein Umzug von Tel Aviv nach Berlin war meine zweite Schreibschule. Mein Schreiben wurde zu einem Verhandlungsprozess zwischen der Gesellschaft und mir, zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Leerstellen, die nicht einfach übersetzt oder erklärt werden können — ich schrieb, um sie zu füllen oder zu erklären.

2020 war »Liebe/eine argumentative Übung« für den Mülheimer Theaterpreis nominiert. Darin geht es um Olivia Öl, die Partnerin von Popeye, dem Spinathelden. Seit 2022 läuft es im Freien Werkstatt Theater. Würdest du das Stück »Liebe« heute anders schreiben?

Das ganze Konzept, ein Stück fertigzustellen, ist irgendwie absurd. Stücke können immer weitergeschrieben werden. Also ja: definitiv würde ich es heute anders schreiben. Andererseits denke ich, dass alle meine Texte dort starten, wo die letzte Arbeit geendet hat. Auch wenn das Thema ein neues ist, enthält es das vorherige und korrespondiert damit.

Für »Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert« hast du den 140 Jahre alten Stoff von Ibsen umgeschrieben. Im Mai wurde dein Text mit dem Mülheimer ­Theaterpreis ausgezeichnet und von der Jury als »gewitztes ­Metadrama, klassismuskritischer ­Klassikerkommentar und kluge Kanonbefragung« beschrieben. Möchtest du nach diesem Erfolg mit dem Überschreiben von Klassikern weitermachen?

Ich habe immer schon Vergangenes als Ebene in meinen Stücken verwendet — zum Beispiel in »Liebe«, in dem ich mit Popeye und Olivia als Kulisse gearbeitet habe. Sie bieten den Zugang und helfen dabei, ­Fragen nach feministischen, heteronormativen, heterosexistischen Beziehungen nachzugehen. Für »Nora« habe ich zum ersten Mal von einem bestimmten Stück aus reflektiert. Das hat für mich einige Fragen aufgeworfen. Warum schreiben wir neue Texte und veröffentlichen sie unter alten Überschriften? Es erinnert mich an mein Stück »Papa Liebt Dich«, dort geht es um Mutterschaft und Körper, um Alter und um die Grausamkeit zwischen Frauen aus unterschiedlichen Generationen — dennoch trägt es »Papa« im Titel. Denn die ganze Architektur des Stücks dreht sich um den Blick des Vaters, um in der Vergangenheit angelegten Strukturen. Mein Text »Nora« hat nichts mit der Figur Nora aus Ibsens Stück zu tun. Stattdessen ist er eine Analyse des Rollenverzeichnisses. Es geht um die Politik der Besetzung im Theater als Metapher dafür, wer wie viel in welchen Rollen zu Wort kommt. Mein Text ist eine Analyse von Kanon, Macht, Narrativen und der Art und Weise, wie Klasse, Diskriminierung und white feminism sich in der Vergangenheit und im Heute zeigen, in der Literatur und in der Welt.

Im Magazin Nachtkritik wurde berichtet, du seiest der Meinung, »dass das Theater, wie es ist und mehr oder weniger funktioniert, eigentlich abgeschafft gehöre«. Findest du das wirklich?

Absolut nicht. In meinen Stücken geht es immer um das Theater als solches und darum, herauszufinden, welche Brüche zwischen uns und unseren Institutionen bestehen. Sie sind alle eine Liebeserklärung. Als Schreiberin tendiere ich dazu, mich auf Reibungspunkte zu konzentrieren und dort zu verharren — länger, als es angenehm ist. Meine Stücke beginnen da, wo ich das Gefühl habe, dass ich nicht wirklich sprechen kann, wo es politisch unkorrekt wird oder ­einfach ungemütlich. Da, wo die Fragen sich vervielfachen und zu metastasieren beginnen. Ich folge den Koordinaten der Gewalt, des Schmerzes, der Unterdrückung, der Diskriminierung derer, die noch nie das Theater betreten haben. Manche meiner Texte verhalten sich von Anfang bis Ende grenzüberschreitend. Sie versuchen Gewalt in demokratischen Institutionen aufzuspüren und zu hinterfragen. Das ist nur möglich, weil ich diesen Institutionen zutraue, stark genug zu sein, ­diesen Prozess zu durchlaufen. Dadurch wird im besten Fall ein Bericht erstellt, ein Protokoll für die Gesellschaft, um mit Schwierigkeiten umzugehen.

Im April hast du in deinem Essay für den Spiegel geschrieben: »Es fehlen uns Räume, in denen wir unterschiedlicher Meinung sein, aber auch einander zuhören können.« Glaubst du, Theater können solche Räume darstellen?

Natürlich ist es schwierig, in einer Gesellschaft, in der Debatten oft von vornherein infantilisiert werden, Räume zu schaffen, die Platz für eine intelligente Begegnung zwischen »Gut« und »Böse« bieten. Wenn du einen Zirkus managst oder eine Komödie inszenierst, kannst du fröhlich Leute engagieren, die den Bösewicht spielen; oder den Ritter, der die Schöne rettet — jede*r versteht das Ritual. Aber natürlich ist es in politischen Debatten komplexer, die Geschichten sind umfangreich und vielschichtig. Deswegen schätze ich den Raum, der von Texten geschaffen wird. In einem guten Text kann niemand diese grotesken Figuren des »Guten« oder des »Bösen« einnehmen. Der Text verlangt Komplexität, Tiefe und eine Art Spiralbewegung in der Erforschung eines Themas: das Darbieten eines Gedankens und dann des widersprüchlichen Gedankens. Diesen Raum kann das Theater schaffen. Sollte es sogar, um die Kunst des Zusammenseins zu lehren, des Verweilens und des gemeinsamen Analysierens und Zuhörens. Dann ist es möglich, mit Worten Räume zu schaffen, in denen wir zusammen trauern können und wo Veränderung möglich ist. Aber diese sollten sehr, sehr solidarische Räume sein. Sie sollten von klugen Künstler*innen und Denker*­-innen ermöglicht werden. Und wir sehen… es herrscht ein großer Mangel daran. Wir müssen aber weiterhin Räume schaffen und Menschen und Perspektiven dorthin einladen, auch wenn es schwer ist, ihnen zuzuhören.

Scheitern inklusive?

Ja, ich denke, dass wir natürlich zum Scheitern verurteilt sind. Es gibt keine ­Möglichkeit, diese Aufgabe erfolgreich zu bewältigen, denn sobald wir erfolgreich waren, wartet die nächste Herausforderung, die nächste Debatte, die eine Prüfung und Dekonstruktion unserer Sichtweise abverlangt. Aber der Versuch ist die eigentliche Leistung: einzuladen und im Unrecht zu sein, einen Skandal zu haben und sich damit zu befassen, einen Brief oder eine Erklärung zu schreiben und dann die Erklärung zu korrigieren und über den Fehler zu sprechen. Perspektiven und Stimmen zu sammeln und sie sprechen zu ­lassen. Das ist, was das Theater kann und ermöglichen sollte.