»Als ich das sah, musste ich fast weinen«: Chilly Gonzales am Ort des Anstoßes

»Wir sind alle Richard«

Weil Richard Wagner Antisemit war, soll die nach ihm benannte Straße einen neuen Namen bekommen — zumindest, wenn es nach Chilly Gonzales geht. Der kanadische Entertainer, der seit zehn Jahren in Köln lebt, will stattdessen Tina Turner auf dem Schild sehen. Wir ­sprachen mit ihm über Cancel Culture und seine Hassliebe zu Wagner

Herr Gonzales, welches ist Ihr Lieblingsstück von Richard Wagner? 

Das Vorspiel zu »Tristan und Isolde«. Es besteht aus dissonanten Akkorden, die Wagner nie auflöst, wie es die Harmonielehre vorgibt, sondern nur zu anderen dissonanten Akkorden führt. Das war vielleicht der größte Beitrag zur Musikgeschichte überhaupt. Für James Joyce war das der Anstoß zu »Ulysses«, einem Buch ohne Plot. Wagner verdient damit auf ewig unseren künstlerischen Respekt, daher rührt auch mein Wagner-Fantum.

Als Sie erstmals Wagner hörten, wussten Sie da von seinen antisemitischen Überzeugungen?  

Mein Vater, der jüdisch ist, war immer großer Wagner-Fan. Als ich 16 war, nahm er mich mit zu den Festspielen nach Bayreuth. Ich sah den Ring-Zyklus und die Meistersinger, wo es um einen musikalischen Wettstreit geht. Ich liebe es, wenn Musik sich wie ein Boxkampf anfühlt. In der Indie- oder Singer-Songwriter-Musik wetteifern die Musiker nur insgeheim. Im Rap tun sie das ganz offen und stehen damit in einer langen Tradition.

Wie erfuhren Sie von Wagners Ansichten?

Nachdem ich aus Bayreuth zurück war, wollte ich alles über Wagner erfahren, las Biographien. Ich war wie vor den Kopf geschlagen und fragte meinen Vater: Wie kann Wagner deine Nummer eins sein? Du bist Jude, Wagner stellt deine Existenz infrage! Mein Vater sagte: Du musst Kunst und Künstler trennen. Dieser Satz wurde zu meinem ­großen Thema, noch mehr seit dem Aufkommen von Cancel Culture und Me Too.

Was bedeutet es, wenn jemand, der so wichtige Dinge erschafft, extrem hassenswerte Dinge öffentlich vermarktet?

Schon 2015 sagten Sie im ZDF Neo Magazin Royale: Fuck Wagner. Ist es bei Wagner möglich, das Werk vom Künstler zu trennen? Die Kunst vom Künstler zu trennen, ist ein vornehmes Ziel, das wir nie wirklich erreichen. Denn es sind Emotionen im Spiel. Ich mag Woody-Allen-Filme nicht sonderlich. Als ich von den Anschuldigungen gegen ihn hörte, fiel es mir nicht schwer, zu sagen: Ich kann das nicht gutheißen, also schaue ich seine Filme nicht mehr. Aber die Songs von R. Kelly höre ich immer noch, weil ich sie so liebe. Ich tue das nicht öffentlich, weil ich mich dafür schäme. Manchmal werde ich meinen Ansprüchen nicht gerecht. Aber einen Straßennamen kann man än­­dern. Nur zu sagen, Wagner muss weg, wäre zu negativ. Ich will ihn nicht canceln und alle Spuren von ihm beseitigen. Wir sollten seine Musik immer noch hören.

Sollte man die Straße dann nicht in Meistersinger- oder Parsifal-Straße umbenennen?  

Das war meine erste Idee, als ich vor zehn Jahren nach Köln zog und oft auf dieser Straße unterwegs war. Aber das fühlte sich zu didaktisch an. Ich bin ein Wahl-Kölner, und Tina Turner, die Köln zehn Jahre lang zu ihrer Heimat machte und letztes Jahr starb, berührt mich. Es geht um das, wofür Tina Turner steht. Sie musste viele Hürden überwinden, um Musik-Idol zu werden. Es wäre natürlich zu einfach, zu sagen: Richard Wagner steht für Hass, Tina Turner für Liebe. Aber es ist etwas Warmes und Positives an ihr, auch wenn es nicht das perfekte intellektuelle Argument ist.

Jemand hat ein Schild mit ihrem Namen dort angebracht.

Als ich das sah, musste ich fast weinen. Die Idee, die ich seit Jahren mit mir herumtrug, war real geworden.

Die Menschen sind auf Ihre Idee angesprungen.

Ich nenne mich Entertainer, nicht Künstler, weil ich nichts bin ohne die Empfänger. Meine Konzerte sind meine wichtigsten Werke, weil ich mit den Leuten zusammentreffe. Ich will ihnen nichts vorgaukeln, sondern auch meine Selbstüberschätzung, meinen Selbsthass und meine verletzlichen Seiten zeigen. Wenn das Publikum sich im Künstler wiedererkennen soll, kann man nicht so tun, als sei man perfekt.

In Ihrem Fuck-Wagner-Song heißt es: Wir sind alle ­Richard. 

Der Song beginnt mit Emotionen, mit dem ­Fuck-Wagner-Gefühl. Aber im weiteren Verlauf stelle ich meine Beweggründe infrage: Wenn ich »Fuck Wagner« sage, müsste ich auch sagen: »Fuck myself, fuck every­body!« Die Wahrheit ist: Wir sind alle Trolle, wir werden alle getriggert. Die Wahrheit tut weh, wir sind alle Richard. Das beste, was man tun kann, ist, einen Menschen in ­seiner Komplexität zu akzeptieren, mit guten und schlechten Seiten. Man sollte nach Perfektion streben, aber immer mit dem Wissen, sie nie zu erreichen.

Es wäre natürlich zu einfach, zu sagen: Richard Wagner steht für Hass, Tina Turner für Liebe

An Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, werden offenbar höhere Anforderungen gestellt.

Bei allen, die nach Macht und Ruhm streben, kann man getrost annehmen, dass sie damit einen Mangel kompensieren wollen. Warum sind wir von ihnen am schnellsten enttäuscht, wenn sie böse Sachen sagen oder kriminell werden? Sie sind mit Sicherheit weniger perfekt als jene, die unbemerkt ihrem Alltag nachgehen. Wer sich in einem »I am a feminist«-T-Shirt zeigt und später sexuellen Fehlver­haltens überführt wird, fällt natürlich umso tiefer. Bei jemandem, der eh schon wie ein Arsch wirkt, sind wir weniger überrascht. Das hat mit unseren Vorurteilen zu tun, und jeder macht unbewusst eine Rechnung auf, ab wann er seine Wahrnehmung ändert. Wenn man einen Song liebt, gewinnt er eine Bedeutung, die jedes intellektuelle Argument übertrumpft. Ich wünschte, die Leute könnten das stärker anerkennen, statt so zu tun, als könne man einfach den Schalter umlegen.

Wie sind Sie mit Ihrer Tina-Turner-Idee weiter vorgegangen?

Ich habe eine Bürgeranfrage bei der Bezirksvertretung Innenstadt gestellt. Einige Lokalpolitiker haben mir Unterstützung zugesagt. Es gibt konservative Stimmen, die eher für eine Plakette plädieren, die auf Wagners antisemitische Überzeugungen hinweist, nach dem Motto: »Wir wollen die Geschichte nicht verändern«, was auch ein respektables Argument ist. Ich stecke zwar viel Energie hinein, aber das heißt nicht, dass ich hundertprozentig überzeugt bin. Ich habe auch eine E-Mail bekommen von einer Frau, deren jüdische Großeltern aus ihrer Wohnung an der Richard-Wagner-Straße ins KZ deportiert wurden. Die Frau schrieb, wenn der Name geändert würde, könnten künftige Generationen nicht mehr nachvollziehen, wo die Großeltern lebten, und dass auch das hässliche Erbe der Geschichte bewahrt werden muss, damit wir davon lernen können.

Werden Sie Ihr Anliegen auch bei Ihrem Konzert auf dem Roncalliplatz Ende Juli vortragen? 

Die Sache entwickelt sich sehr positiv. Jemand, vom dem Sie es nicht erwarten würden, unterstützt unsere Initiative — und das werde ich auf dem Roncalliplatz bekanntgeben.