Koloniale Verstrickungen
Sich selbst fremd zu werden, seiner Sprache und seiner Nation, schreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari in der Tradition des poststrukturalistischen Denkens, sei das Eigentümliche des Philosophierens. Und doch wird der Ursprung der französischen Theorie fast ausschließlich in Pariser Bibliotheken verortet. Dabei lehrten und forschten viele Vertreter:innen des Poststrukturalismus an den Universitäten französischer Kolonien — während die Menschen vor Ort für ihre Unabhängigkeit kämpften. Dies sei das »koloniale Dilemma« der französischen Postmoderne, meint Onur Erdur. Der Historiker und Kulturwissenschaftler spürt in seinem Buch »Schule des Südens« die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie im Maghreb auf und beschreibt den bisher kaum beachteten geografisch-biografischen Einfluss.
Zum Schlüsselereignis der ideengeschichtlichen Spurensuche wird der algerische Dekolonisationskrieg. Erdur rekonstruiert, wie Pierre Bourdieu als Wehrdienstleistender im stillen Widerstand in der algerischen Provinz seinen Habitus-Begriff formte oder Jean-François Lyotards Erfahrung der »hoffnungslosen Widersprüchlichkeit« zwischen seiner Lehrtätigkeit in Constantine und dem antikolonialen Engagement zum Abgesang auf ideologisch-politische Universalerzählungen führte. Weniger bewusst waren sich hingegen Roland Barthes und Michel Foucault ihrer neokolonialen Privilegien. An den Stränden von Marokko und Tunesien ließen sie sich von erotischen Abenteuern treiben und entwickelten — trotz des Vorwurfs des Exotismus — ihre Ideen von entmystifizierten Kolonialdiskursen und konkurrierenden Räumen, den Heterotopien.
»Alles, was ich weiß ist, dass die Welt mehr als eine Welt ist«, erklärt auch die algerisch-jüdische Philosophin Hélène Cixous in einem Interview und ist unter den Poststrukturalist:innen die wahrscheinlich herausragendste Stimme gegen die kolonialen Verstrickungen Frankreichs in Algerien. Anders Jacques Derrida: Seine algerisch-jüdische Herkunft ist ein »selbstauferlegtes Tabu«, schreibt Erdur, über das der Erfinder der Dekonstruktion erst spät zu sprechen begann, aber das als »das große Andere« von Beginn an in seinem Werk präsent ist.
Onur Erdurs Buch zeigt nachwirkend, wie sich mit Étienne Balibar und Jacques Rancière die Erfahrungen der kolonialen Fremde auch noch in den Philosophien der Folgegenerationen fortschreiben — und dass poststrukturalistisches und postkoloniales Denken unabdingbar miteinander verwoben sind.
Onur Erdur: »Schule des Südens. Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie«, Mathes & Seitz, 335 Seiten, 28 Euro