Straffer Religionskrimi: »Der Orgelspieler von St. Veit«

Das Genie des Systems

Entdeckungen im Programm der 40. Internationalen Stummfilmtage Bonn

Im August ist filmhistorisch gemeinhin nicht viel los in Köln, also reisen die hiesigen Cinephilen zu den Internationalen Stummfilmtage nach Bonn. Wobei das Programm dieses Jahr wenig aufweist, von dem man als entsprechend interessierter Mensch noch nicht gehört hätte. Eine Entdeckung ist sicher Martin Fričs gewohnt straff gebauter, beeindruckender Religionskrimi »Der Orgelspieler von St. Veit« (1929). José Leitão de Barros’ »Maria vom Meer« (1930), in dem er sich an einem Realismus versucht, der schöner ist als die Wirklichkeit, gehört mittlerweile zum Kanon der herausragenden Leistungen Portugals im späten Stummfilm. Genannt sei hier auch noch die exzellente Henrik-Pontoppidan-Adaption »Thora van Deken« (1920) des schwedischen Handwerksgroßmeisters John Wilhelm Brunius, dessen Schaffen wirklich zu selten angemessen ­gewürdigt wird. Aber ansonsten: ­wenige Überraschungen oder  Entdeckungen aus Asien oder Mittel- und Südamerika, nichts Unbekanntes oder selten Gezeigtes aus den USA, Frankreich, Italien oder der damaligen UdSSR.

Teinosuke Kinugasa wird all jenen, welche die Stummfilmtage regelmäßig besuchen, ein Begriff sein, liefen hier doch über die Jahre mehrere Regie- wie Produktionsarbeiten des ersten japanischen Kinoavantgardisten. Der extrem stilisierte Historienfilm »Im Schatten von Yoshiwara« (1928) war der erste japanische Film, der etwas weiter im Ausland gezeigt wurde, entsprechend oft wird er in der Literatur genannt. Das Publikum erfreut sich immer noch gerne an solchen würzigen Geschichten mit Samurais und Geishas. Allerdings muss man auch sagen, dass sich »Im Schatten von Yoshiwara« mit seinem aggressiven, eine Zeitlang auch schwer beeindruckenden Ästhetizismus gegen Ende etwas zieht, der Gestaltungswille den Erzählnotwendigkeiten im Weg steht. Nichtsdestotrotz: Einen Spielfilm, der immer wieder aussieht wie ein sich bewegender Holzschnitt, sollte man sich unbedingt in groß anschauen.

Mit der schieren Schauwucht, dem ­visuellen Spektakel der in Indien gedrehten Filme von Franz Osten kann bis heute wenig konkurrieren

Stummfilmtagetreuen ebenfalls bekannt sein könnte Franz Osten: ein Deutscher, der unter anderem einige Filme in der britischen Kolonie Indien drehte und damit einen komplex zu diskutierenden Einfluss auf die dortige Kinokultur hatte. Gestalterisch hat die gemeinsam mit Himānśu Rāy˙ inszenierte Buddha-Fantasie »Die Leuchte Asiens« (1925) ziemlich wenig mit dem zu tun, was einheimische Kreativkräfte zeitgleich schufen. Der Film ist germanische Exotika für einen internationalen Markt und basiert auf einem englischen Versepos, das der Lalitavistara-Sutra folgt. Darauf ließen sich die beteiligten Inder ein, um auch jenseits der eigenen Grenzen eine gewisse Sichtbarkeit zu erlangen, was ihnen mit eigenen Produktionen verwehrt blieb. In Indien werden Ostens Werke zur lokalen Kinokultur gezählt — man fühlt sich gut genug verstanden. Mit der schieren Schauwucht, dem visuellen Spektakel dieser Filme kann bis heute wenig konkurrieren.

Im Programm findet sich doch noch ein etwas ungewöhnlicherer französischer Name: Jacques De Baroncelli, dessen ­elegant-ironische Reflexion über das Fantom männlichen Begehrens, »Wenn du zum Weibe gehst« (1929), zu den Höhepunkten der diesjährigen Auswahl gehört. De Baroncelli ist ein Regisseur, der sein Schattendasein nicht verdient, und der in den letzten Jahren erfreulicherweise auch wieder etwas häufiger gezeigt wird. Er gehört ähnlich wie John Wilhelm Brunius zu der umfangreichen zweiten Reihe der Kinogeschichte: Filmemacher mit solide erfolgreichen Karrieren, die formal perfekte, meist anspruchsvoll-intelligente Werke en masse schufen, aber nie den Künstlernimbus ihrer besser bekannten, weil besser kultivierten Kollegen erlangten. »Wenn du zum Weibe gehst« manifestiert, warum Frankreich als Filmnation so einen ungeheuren Ruf hat, und dass dieser auch berechtigt ist: Wenn man nämlich so einen Film ins Gleis gestellt bekommt, ohne dass das etwas Besonderes wäre, dann kann man wirklich alles. ­Damit, mit dem »Genie des Systems«, sollte man sich mehr beschäftigen.

Infos: internationale-stummfilmtage.de